Stalingrad
… Ich liege … Ta-ta-ta-ta-ta …
»Lebst du?«
»Ja …«
Ich liege mit dem Gesicht im Schnee, die Arme von mir gestreckt, das linke Bein unterm Bauch angezogen, um leichter aufspringen zu können. Bis zu den Gräben sind es noch fünf oder sechs Schritte. Aus einem Augenwinkel verschlinge ich dieses Stückchen Erde.
Man muß zwei oder drei Minuten warten, bis der Maschinengewehrschütze sich beruhigt hat. Jetzt kann er uns nicht treffen – wir sind zu tief.
Man hört, wie jemand durch die Gräben geht und spricht. Die Worte versteht man nicht … Es ist Zeit …
»Fertigmachen!« spreche ich, ohne den Kopf zu heben, in den Schnee.
»Fertig«, tönt es von links.
Ich spanne alle Muskeln an. In den Schläfen hämmert es.
»Los!«
Ich stoße mich ab. Drei Sprünge – und wir sind im Graben …
Wir sitzen noch lange nachher im Schmutz auf dem Boden des Grabens und lachen. Jemand gibt mir eine Kippe.
Es stellt sich heraus, daß es schon fünf Uhr ist. Die Uhr des Soldaten war ebenfalls stehengeblieben. Wir haben von sieben bis fünf Uhr – also zehn Stunden – im Trichter gelegen. Jetzt erst merke ich, daß ich wahnsinnigen Hunger habe.
Am Morgen beerdigen wir die Kameraden: Charlamow, Sendezkij und den Zugführer mit der grauen Strähne. In der Nacht haben Sanitäter ihre Leichen vom Schlachtfeld geholt. Karnauchow hat man nicht gefunden. Es heißt, man hätte gesehen, wie er mit vier Soldaten in die deutschen Gräben gestürmt sei. Dort ist er wahrscheinlich auch umgekommen.
Schirjajew kam selbst angekrochen – blutüberströmt und mit einer hilflos herabhängenden Hand. Mit Mühe ist er über die Brustwehr gekrochen und hat sofort das Bewußtsein verloren. Man hat ihn zum Verbandplatz geschafft. Ich ging dorthin. Eine halbe Stunde zuvor war er aufs andere Ufer ins Lazarett gebracht worden.
Im ganzen hat das Bataillon sechsundzwanzig Mann verloren – beinahe die Hälfte, die Verwundeten nicht mitgezählt.
Das Bataillon hat Farber übernommen. Als einziger von allen Offizieren hat er an dem Angriff nicht teilgenommen. Abrossimow hatte ihn bei sich behalten.
Wir beerdigen die Kameraden direkt an der Wolga.
Einfache Särge aus ungehobelten Fichtenbrettern. Bleigraue schwere Wolken ziehen über unsere Köpfe hin. Der Wind spielt mit den Schößen der Mäntel. Nasser, ekliger Schnee kriecht hinter den Kragen. Auf der Wolga schwimmen Eisschollen – Herbsteisgang.
Drei Gruben gähnen.
Hier an der Front ist alles einfach. Gestern waren sie noch – heute sind sie nicht mehr, und morgen wirst du vielleicht auch nicht mehr sein. Und die Erde wird genauso dumpf auf den Deckel deines Sarges fallen. Vielleicht wird auch gar kein Sarg da sein, sondern du wirst vom Schnee verweht werden und wirst liegen, mit dem Gesicht in die Erde gepreßt, bis der Krieg zu Ende ist …
Drei kleine rostbraune Hügel erheben sich am Ufer der Wolga. Drei graue Fellmützen auf drei Pfählen. Salut – ein trockener Wirbel aus Maschinenpistolen. Wie ein Echo dröhnen die Ferngeschütze jenseits der Wolga. Eine Minute des Schweigens. Die Pioniere sammeln die Spaten ein und richten die Gräber her.
Das ist alles.
Wir gehen fort.
Keiner von ihnen war älter als vierundzwanzig Jahre. Karnauchow war fünfundzwanzig. So hat er mir seine Gedichte doch nicht vorgelesen. Zusammen mit dem Brief der Mutter und der Fotografie von Ljussja trage ich sie in meiner Tasche. Die Verse sind einfach, klar und sauber, wie er selber war.
… Du bist vom Unterstand, dem kleinen,
So weit entfernt wie eine fremde Welt.
Doch will es mir so nah erscheinen,
Als ob dich meine Hand noch hält.
Ich sehe die Zweige sich biegen,
In Birken, da rauschet der Wind,
Er läßt deine Zöpfe sich schmiegen,
Umwinden und fesseln mich lind …
Das Porträt Jack Londons hänge ich über dem Tischchen unter dem Spiegel auf. Sie sehen sich sogar etwas ähnlich – London und Karnauchow.
Das letztemal habe ich mit Karnauchow etwa drei Minuten vor dem Beginn des Angriffs gesprochen. Er hockte in der Ecke des Laufgrabens und legte Zündungen in die Handgranaten ein. Ich fragte ihn etwas, ich weiß nicht mehr, was. Er hob den Kopf, und zum ersten Male sah ich nicht in seinen Augen jenes tiefe Lächeln, das stets auf ihrem Grunde war, jenes stille Lächeln, das ich so liebte. Er antwortete mir etwas, und ich ging fort. Später habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Ich liege lange, das Gesicht ins Kissen gepreßt. Lissagor kommt, setzt sich auf seine Pritsche,
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