Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalingrad

Stalingrad

Titel: Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Nekrassow
Vom Netzwerk:
Sendezkij und ich herausgesprungen. Und noch einer, ein Zugführer, einer von den neuen. Ich habe mir nur gemerkt, daß unter seiner Mütze eine Strähne völlig grauen Haares hervorlugte. Farber habe ich nicht gesehen.
    Ich bin wahrscheinlich nicht weit gelaufen und habe mich gleich niedergeworfen. Ich kann mich nicht erinnern, was mich gezwungen hat, mich hinzuwerfen. Ringsherum ist plötzlich alles leer geworden. Erst waren viele da – und plötzlich niemand. Es war ein schreckliches Gefühl, so ganz allein zu bleiben. Übrigens, ich weiß nicht mal, ob mir schrecklich zumute war. Ich weiß nicht mal, wie und warum ich in diesem Trichter gelandet bin.
    Infolge der unbequemen Lage bekomme ich einen Krampf im rechten Bein, erst in der Wade, dann im Fuß, dann im Muskel, der vom Knie über die Hüfte nach oben führt. Ich drehe mich auf die andere Seite und versuche, das Bein auszustrecken. Aber es ist kein Platz da zum Ausstrecken – ich fürchte, mich aus dem Trichter herauszurecken. Ich reibe mit den Händen, bewege die Zehen. Der Wadenkrampf vergeht nicht, der Stiefelschaft stört.
    Der Verwundete stöhnt noch immer. Ohne Unterbrechung, aber schon leiser.
    Die Deutschen verlegen das Feuer in die Tiefe der Verteidigungsstellung. Die Explosionen sind weit im Rücken zu hören. Die Kugeln fliegen bedeutend höher. Die Deutschen haben sich entschlossen, uns in Ruhe zu lassen. Ich stecke die Mütze einen Fingerbreit zum Trichter hinaus. Sie schießen nicht. Noch ein bißchen. Sie schießen nicht. Auf die Hände gestützt, luge ich mit einem Auge hinaus. Bis zu den Deutschen ist es ein Katzensprung. Man kann mit einem Steinwurf die Spanischen Reiter, die vor ihren Gräben stehen, erreichen. Das Maschinengewehr befindet sich mir gerade gegenüber.
    Ich häufe aus Erde einen kleinen Wall auf, nach der Seite der Deutschen hin. Jetzt kann ich ringsherum und auch nach hinten sehen, werde selber aber nicht gesehen.
    Bis zu unseren Gräben ist es weiter als bis zu den deutschen. Etwa dreißig Meter, vielleicht auch mehr. Jemand läuft gebückt in ihnen – man sieht nur, wie die Ohrenklappen hin und her wackeln. Er verschwindet. Der Soldat, der neben mir gelaufen war, liegt weiter so, die Arme von sich gestreckt. Das Gesicht ist mir zugewendet, die Augen sind geöffnet. Es sieht aus, als ob er das Ohr an die Erde gepreßt hätte, um auf etwas zu lauschen. Einige Schritte von ihm entfernt ein anderer. Man sieht nur die Füße in dicken Tuchgamaschen und gelben Stiefeln.
    Alles in allem zähle ich vierzehn Leichen. Einige liegen wahrscheinlich noch vom Morgenangriff da. Weder Schirjajew noch Karnauchow sind unter den Toten. Ich hätte sie sofort erkannt. Ringsherum sind viele Trichter, große und kleine. In dem einen blinkt etwas, verschwindet dann.
    Der Verwundete stöhnt noch immer. Er liegt einige Schritte von meinem Trichter entfernt, mit dem Gesicht nach unten, den Kopf zu mir gewandt. Seine Mütze liegt daneben. Schwarze, lockige Haare, schrecklich bekannt. Die Arme sind angezogen und an den Körper gepreßt. Er kriecht, kriecht langsam, langsam, ohne den Kopf zu heben, kriecht nur auf den Ellbogen. Hilflos zieht er die Beine hinter sich her. Er stöhnt die ganze Zeit, jetzt schon ganz leise. A-a-a-a! …
    Ich wende kein Auge von ihm. Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann. Ich habe nicht mal ein Verbandpäckchen bei mir.
    Er ist schon dicht neben mir. Ich kann ihn mit der Hand erreichen.
    »Komm her, komm her«, flüstere ich und strecke die Hand aus.
    Der Kopf hebt sich. Große schwarze Augen, bereits getrübt durch den nahenden Tod. Charlamow, mein früherer Stabschef … Er sieht mich an, ohne mich zu erkennen. Auf dem Gesicht gar kein Ausdruck des Leidens, sondern der Abgestumpftheit. Stirn, Wangen, Zähne, alles mit Erde bedeckt. Der Mund halb geöffnet, die Lippen weiß. »Schnell, schnell, hierher! …«
    Die Ellbogen auf die Erde gestützt, kriecht er an den Trichter heran, fällt mit dem Gesicht in die Erde. Ich stecke die Hände in seine Achselhöhlen und ziehe ihn in den Trichter herein. Er ist ganz weich, als hätte er keine Knochen. Der Kopf fällt kraftlos nach vorn. Die Beine sind völlig leblos. Mit Mühe lege ich ihn zurecht. Für zwei ist es eng im Trichter. Ich muß seine Beine auf die meinen legen. Er liegt, den Kopf zurückgeworfen, und blickt in den Himmel, atmet schwer und selten. Die Feldbluse und der obere Teil der Hose sind mit Blut bedeckt. Ich öffne seinen Gürtel, hebe das Hemd hoch.

Weitere Kostenlose Bücher