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Stalingrad

Stalingrad

Titel: Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Nekrassow
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bezahlte. Ich mühe mich lange – Charlamow ist schwer geworden, als ob er an der Erde angewachsen wäre. Dennoch hole ich sie heraus. In ein kleines Stückchen Wachstuch sorgfältig eingewickelt und zugesteckt mit einer Sicherheitsnadel – die Kandidatenkarte, zwei Briefe, ein ganz abgegriffener, zerknitterter Ausweis mit auseinandergeflossener Tinte und einige Photographien. Die Fotografien sind besonders eingewickelt. Ich hätte mir niemals träumen lassen, daß Charlamow so ordentlich ist. Als er bei mir im Stab war, hat er stets alles vergessen und verloren.
    Ich betrachte die Bilder. Auf dem einen ist Charlamow mit einer Frau. Sie hat langes lockiges Haar und weit auseinanderstehende Augen. Wahrscheinlich seine Frau. Auf dem Arm hält sie ein Kind, das genauso große schwarze Augen hat wie der Vater. Auf dem anderen Bild: noch einmal seine Frau, nur allein, mit einer Baskenmütze. Auf dem dritten: eine Gesellschaft am Ufer eines Flusses. Alle lachen. Ein Bursche mit einer Gitarre. Charlamow, in Badehose, liegt auf dem Bauch. In der Ferne sieht man ein Feld und einen Heuschober … Auf der Rückseite steht geschrieben: »Tscherkisowo, Juni 1939. Die zweite von links ist Mura.« Ich wickle wieder alles ins Wachstuch, stecke es mit der Nadel fest und schiebe es in meine Tasche.
    Ein kleiner Lehmklumpen trifft mich am Ohr. Ich zucke zusammen. Der zweite fällt daneben, gegen mein Knie. Jemand wirft nach mir. Ich hebe den Kopf. Aus dem Nachbartrichter guckt ein unrasiertes, breites Gesicht heraus.
    »Brüderchen … hast du Streichhölzer? Oder eine ›Katjuscha‹ 12 ?«
    »Hab ich.«
    »Wirf sie um Gottes willen bloß herüber.«
    »Läßt du mir die Kippe übrig?«
    »Gut.«
    Ich werfe die Schachtel hinüber. Sie bleibt zwei Schritte entfernt liegen. Pfui Teufel … Der im Trichter streckt die Hand aus. Ach, zu kurz gezielt … Wir wenden beide kein Auge von der Schachtel. Klein, mit schwarzen Seiten, liegt sie da im Schnee und scheint über uns zu lachen. Dann taucht ein Gewehr auf. Langsam, vorsichtig kommt es aus dem Trichter, bewegt sich auf dem Schnee, zielt nach der Schachtel. Diese Operation zieht sich eine Ewigkeit hin. Die Schachtel gleitet, bewegt sich fort, will sich durchaus nicht hinter das Korn verhaken. Dem Besitzer des Gewehrs steht vor lauter Anstrengung der Mund offen. Endlich hakt es sich ein. Kopf und Gewehr verschwinden. Über dem Trichter erscheint leichter Rauch.
    »Vorsichtiger«, flüstere ich, aber ich glaube, er hört mich nicht.
    Er raucht eine gute halbe Stunde, bestimmt nicht weniger. Mir wird ganz schwindlig im Kopf vor Neid und Begierde. Dann kehrt die Streichholzschachtel zu mir zurück, mit einem winzig kleinen, speichelfeuchten Stummel im Innern. Ich sauge und sauge mit aller Kraft, verbrenne mir beide Lippen.
    »Kamerad! Hast du eine Uhr?« frage ich im Flüsterton.
    »Drei Viertel zwölf«, ertönt es aus dem Trichter.
    Ich traue meinen Ohren nicht … Ich hatte gedacht, daß es zwei oder drei sei, und jetzt stellt sich heraus, daß es noch nicht mal zwölf ist … Um das Maß voll zu machen, setzt neuer Beschuß ein. Ob von den Unseren oder den Deutschen, mag der Teufel wissen! Die Granaten explodieren ganz in der Nähe. Etwa zehn bis fünfzehn Minuten lang. Dann eine Pause. Dann wieder Feuerüberfall.
    Ich muß laufen; noch sechs Stunden zu warten, das halte ich nicht aus. Schießen sie einen tot, nun gut – dem Tode entgeht man nicht.
    Aus dem Trichter krächzt es mich wieder an:
    »Freund … h-e-e … Freund …«
    »Was willst du?«
    »Wollen wir laufen?«
    Er hält es auch nicht aus.
    »Los«, antworte ich.
    Wir wenden eine kleine List an. Die vorhergehenden drei sind kurz vor der Brustwehr getötet worden. Wir müssen uns hinwerfen, ehe wir unsere Gräben erreicht haben. Beim Abschuß werden wir bereits liegen. Dann mit einem Sprung direkt in die Gräben. Vielleicht gelingt es. Ich drehe mich nach unseren Gräben um. Hauptsache, daß der Krampf nicht wiederkommt. Das Gelände vor uns ist eben – nur ein kleiner Trichter und daneben ein Toter.
    »Nun, fertig?«
    »Fertig …«
    Ich stütze mich auf das linke Bein, das rechte ist im Knie gebeugt. Ein letzter Blick auf Charlamow. Er liegt ruhig da, die Knie angezogen, die Hände auf dem Bauch. Er hat nichts mehr nötig …
    »Los!«
    »Los!«
    Schnee … Trichter … Ein Toter … Wieder Schnee … Ich werfe mich auf die Erde … Und beinahe im selben Augenblick: ta-ta-ta-ta-ta … Ich atme nicht … Ta-ta-ta-ta-ta

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