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Stalingrad

Stalingrad

Titel: Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Nekrassow
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die Höhe geschossen, geht als schöner grünroter Regen nieder …
    Wir sitzen am Rande einer gewundenen, kahlen Schlucht und sehen zu, wie unten ein Zug dahinkriecht. Er ist schrecklich lang, und auf seinen Plattformwagen steht etwas mit Zeltbahnen Bedecktes – wahrscheinlich Panzer. Die Lokomotive, wie aufgeblasen, mit einem kurzen Schornstein, ächzt schwer und unzufrieden. Sie spart nicht mit Rauch und zieht langsam, mit der Beharrlichkeit eines an schwere Lasten gewöhnten Zugpferdes.
    »Woran denken Sie?« fragt Ljussja.
    »An ein Maschinengewehr. Hier wäre ein guter Platz für ein Maschinengewehr.«
    »Jura … Wie können Sie nur?«
    »Und ein anderes müßte man dort aufstellen. Es wird die ganze gegenüberliegende Seite der Schlucht beherrschen.« »Ist Ihnen denn das alles nicht schon zum Überdruß geworden?«
    »Was alles?«
    »Der Krieg, die Maschinengewehre.«
    »Sterbensüberdrüssig bin ich dessen.«
    »Warum sprechen Sie also darüber, wenn Sie nicht dar über zu sprechen brauchen? Wozu? …«
    »Einfach aus Gewohnheit. Ich betrachte jetzt sogar den Mond nur noch im Hinblick auf seine Nützlichkeit und seinen Vorteil. Eine Zahnärztin sagte mir mal, wenn man ihr von jemand etwas erzähle, dann erinnere sie sich zuerst an seine Zähne, Ersatzstücke und Plomben …«
    »Ich hingegen bemühe mich, außerhalb des Lazaretts an alle diese Stümpfe, trepanierten Schädel und anderen Schrecknisse nicht zu denken.«
    »Sie arbeiten eben erst seit kurzem im Lazarett – das besagt alles.«
    »Schon den zweiten Monat.«
    »Und ich schon das zweite Jahr. Und ein Kriegsjahr, das zählt soviel wie drei Friedensjahre, vielleicht auch wie fünf …«
    Ljussja stützt sich mit der Hand auf mein Knie und blickt mir in die Augen. Sie hat einen kleinen Leberfleck am linken Auge und lange, nach oben gebogene Wimpern, solche wie Sedych.
    »Und wie waren Sie vor dem Kriege, Jura?«
    Was soll ich ihr darauf antworten?
    Genauso wie jetzt, nur ein wenig anders. Ich schaute gern den Mond an, aß gern Schokolade, pflegte in der dritten Parkettreihe zu sitzen, liebte den Flieder und einen Trunk im Kreise der Kameraden …
    Einige Zeit sitzen wir schweigend da und blicken zum jenseitigen Ufer hinüber.
    »Hübsch, nicht wahr?« fragt Ljussja.
    »Hübsch«, antworte ich.
    »Haben Sie das gern, so dazusitzen und zu schauen?« »Ja, das habe ich gern.«
    »Wahrscheinlich haben Sie auch in Kiew abends mit jemand am Ufer des Dnjepr so gesessen und in die Ferne geschaut?«
    »Ja, so haben wir dagesessen und geschaut.«
    »Haben Sie eine Frau in Kiew?«
    »Nein, ich bin nicht verheiratet.«
    »Mit wem haben Sie denn dagesessen?«
    »Mit Ljussja.«
    »Mit Ljussja? Wie spaßig. Auch eine Ljussja?«
    »Auch eine Ljussja. Und wie Sie trug sie ihr Haar kurzgeschnitten. Klavier hat sie freilich nicht gespielt.«
    »Und wo ist sie jetzt?«
    »Ich weiß nicht. Bei den Deutschen. Viele sind bei den Deutschen geblieben. Auch meine Eltern.«
    »Haben Sie ein Bild von ihr?«
    »Ja.«
    »Darf man es sehen?«
    Ich nehme aus der Brieftasche das Bild. Wir sind beide darauf – Ljussja und ich. Es ist eine schlechte Amateurfotografie, auf Tageslichtpapier, beinahe verblichen. Ljussja nimmt das Bild in die Hände und beugt sich so tief herab, daß ihre Haare mein Gesicht berühren. Sie duften nach frischer Seife.
    »Ihre Ljussja hat ein unsymmetrisches Gesicht. Haben Sie’s je bemerkt?«
    »Nein, ich habe es nicht bemerkt.«
    »Lieben Sie sie? Oder ist es nur so?«
    »Mir scheint, ja. Jedenfalls habe ich Sehnsucht.«
    »Große?«
    »Nun, große.«
    »Warum ›nun‹?«
    »Dann einfach: große.«
    Ljussja senkt die Augen. Auf einmal errötet sie. Sogar ihre Ohren, klein, mit Löchern für Ohrringe, werden ganz rot. Unten kriecht noch ein Zug vorbei, genauso ein langer und schnaufender. Irgendwo rattert eine Straßenbahn, aber man sieht sie nicht. Am Himmel erscheinen Sterne, blasse und schüchterne.
    Ich blicke zu den Sternen empor, dann auf das kleine rosa Ohr mit dem Löchlein, auf Ljussjas schmale Hand; an ihrem kleinen Finger sitzt ein Ring mit einem grünen Stein. Sie ist sympathisch und hübsch, diese Ljussja, und mir ist es angenehm, mit ihr zusammen zu sein. In ein paar Tagen werden wir uns trennen und uns niemals wiedersehen. Ich werde während des Krieges noch andere Ljusjas treffen und vielleicht ebenso neben ihnen sitzen, und dann werden sie verschwinden, und ich werde ihre Gesichter und Namen vergessen. Sie werden zusammenfließen, alle

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