Stalingrad
in eine große, weite, angenehme Illusion von etwas Vergangenem, Weitem und Verlockendem.
Ich gebe ihr auf jeden Fall die Adresse meines Moskauer Freundes, an die sie, wenn der Krieg vorbei ist und falls sie Lust dazu haben sollte, mir schreiben kann. Sie schreibt die Adresse in ein kleines Notizbuch und sagt, daß sie auf jeden Fall schreiben wird.
… Nach einer Stunde gehen wir fort. Ljussja schweigt und hält sich mit beiden Händen an mir fest, und ich fühle, wie ihr Herz schlägt; ihre Hände sind weich und warm, und sie selbst ist rührend und traut.
12
Wir bekommen Arbeit. Igor, ich und noch zwei Leutnants aus der Reserve. Wir nennen uns eine »Gruppe zur besonderen Verwendung«. Unser Chef ist Major Goldstab, unheimlich intelligent, glatzköpfig und kurzsichtig. Leiter der Gruppe ist Hauptmann Samoilenko, ein mürrischer Mann mit zuckender Nase, ebenfalls aus der Reserve.
Die Arbeit ist einfach. Die Industriewerke der Stadt sind für jeden Fall zur Sprengung vorzubereiten. Man muß eine Skizze der Sprengstoffverteilung machen, die nötige Menge berechnen, die Art der Sprengung festlegen und in den Betrieben besondere Sprengkommandos zusammenstellen und instruieren. Das ist alles.
Ich übernehme das Fleischkombinat, das Kühlhaus, die Mühle Nr. 4 und eine Brotfabrik, Igor – eine Brauerei, eine andere Mühle und das Werk »Metis«.
Wir übersiedeln in eine neue Wohnung, eine große, leere und ungemütliche Wohnung mit einem Balkon nach dem Bahnhofsplatz. Es gibt fast keine Einrichtungsgegenstände: nur einen Tisch, vier Stühle, drei durchgelegene Betten und einen elektrischen Tauchsieder, den jemand vergessen hat.
Igor und ich belegen zwei Betten und legen unsere Mäntel darauf. Das dritte nimmt der Oberleutnant mit dem seltsamen Namen Pengaunis, wahrscheinlich ein Lette. Der vierte von uns, Schapiro, richtet sich auf Stühlen ein. Walega und Sedych bereiten sich im Nebenzimmer auf dem Fußboden ein Lager. Der mürrische Hauptmann bezieht irgendwo ein Privatquartier. Einmal am Tage kommt er, zuckt mit der Nase, fragt, was wir machen, raucht eine Zigarette und geht fort.
In den Betrieben zucken die Direktoren mit den Schultern und sagen, daß sie niemanden hätten, um Kommandos zusammenzustellen – lauter Frauen wären übriggeblieben. Die Arbeiter schielen nach uns: »Was wollen die Militärs so oft hier?« Ich spiele den Feuerwehrmann und betaste die Feuerlöschgeräte.
Im Kühlhaus bewirtet man uns mit Eis auf großen Tellern, im Fleischkombinat mit Wurst und Knackwürstchen.
Die Tage sind klar und heiß, die Nächte stickig.
Marja Kusjminitschna klagt darüber, daß auf dem Markt alles teurer werde und daß man Milch und Butter kaum noch bekomme. Nikolai Nikolajewitsch seufzt über seiner Karte. Die Heeresberichte klingen wenig tröstlich. Maikop und Krasnodar sind gefallen.
In der Stadt sind viele Verwundete. Jeden Tag werden es mehr und mehr. Unrasiert, blaß, mit weißen Binden auf den verstaubten, blutbefleckten Uniformen, ziehen sie in langen Reihen zur Wolga hin. Die Lazarette werden evakuiert. Auf den Straßen und in den Wohnungen kontrollieren Patrouillen die Ausweise. Die Straßen nach Kalatsch und Kotelnikowo sind von Autos verstopft. In allen Höfen werden Luftschutzgräben und große tiefe Löcher ausgehoben. Man sagt, es sollen Löschteiche werden für den Fall eines Brandes. Ab und zu kommen die Fritzen angeflogen, werfen zwei, drei Bomben am Stadtrand ab und fliegen wieder fort. Flak gibt es in der Stadt viel.
Churchill kommt im Flugzeug nach Moskau. Das Kommuniqué ist ziemlich unbestimmt gehalten.
Wo die Kämpfe sind, wissen wir nicht genau. Im Heeresbericht heißt es: »Nordöstlich Kotelnikowo«, »im Donbogen« … Man sagt, Abganerowo sei schon von den Deutschen besetzt. Das ist fünfundsechzig Kilometer von hier. Marja Kusjminitschna hat gehört, daß die Unseren Kalatsch aufgegeben und sich nach Karpowka abgesetzt haben sollen. Die Verwundeten kommen hauptsächlich aus Kalatsch. Sie zucken mit den Schultern: »Panzer … Flieger … was kann man da machen …«
Ein Befehl zur Evakuierung ist noch nicht gegeben worden, aber Ljusjas Nachbarn, ein Zahnarzt mit seiner Frau und zwei Kindern, sind gestern nach Leninsk abgefahren … um die Schwester zu besuchen.
In der Operette spielt man »Sylvia«, »Mariza«, »Rosemarie«. In den Büfetts – mit Ausnahme von Wolgawasser, fünf Kopeken das Glas – gähnende Leere. Auf der Bühne Zylinder, gestärkte Hemden,
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