Stalingrad
Patrone kämpfen. Und – wenn die Patronen alle sind – mit Fäusten und mit Zähnen … Das ist der russische Mensch. Wenn er im Schützengraben liegt, wird er mehr auf seinen Spieß schimpfen als auf die Deutschen. Kommt es aber darauf an, so steht er seinen Mann. Dividieren, multiplizieren und richtig lesen, das wird er noch lernen, wenn nur Zeit und Bedürfnis dazu vorhanden sind …
Walega brummt etwas im Schlaf, wälzt sich auf die andere Seite, rollt sich wieder zu einem Knäuel zusammen und zieht die Knie an das Kinn heran.
Schlaf, schlaf, du Großohriger … Bald wird es wieder Schützengräben geben und schlaflose Nächte – »Walega hierher! Walega dorthin! …« Schlaf vorläufig. Und wenn der Krieg vorbei ist und wir am Leben bleiben, so wird sich das Weitere schon finden.
11
Am Morgen im Personalamt stoßen wir buchstäblich mit der Nase auf Kalushskij, der rasiert, frisch und sogar erholt aussieht.
»Kinderchen … Gesund und lebendig? Wohin des Wegs?«
Er streckt uns seine warme, feuchte Hand entgegen. »Dorthin, woher du kommst.«
»Ein Augenblickchen. Eilt doch nicht so. Habt ihr Tabak?« »Haben wir.«
»Wir müssen unbedingt etwas rauchen und unsern Verstand ein bißchen anstrengen. Hier ist eine nette kleine Bank.«
Er zieht uns zu einem dreibeinigen Bänkchen in die staubige Anlage.
»Wozu diese Hast? Versteht ihr? Die Sache ist ja ganz klar. Entweder Reserve – oder vorderste Linie. Ruckzuck – und ihr seid nicht mehr.«
»Na?«
»Würde euch das gefallen?« Seine rasierten Augenbrauen heben sich erstaunt in die Höhe. »Wißt ihr, was sich an der Front jetzt abspielt? Leute werden wahllos hingeschickt. Ich habe heute mit einem verwundeten Leutnant gesprochen. Er ist erst gestern aus Kalatsch zurückgekehrt. Man wird auf den ersten besten Platz geschickt. Hier hast du Leute, hier deine Stellung – nun halte sie. Versteht ihr? Die Messerschmitt kreisen nur so über den Köpfen. Mit einem Wort …«
Mit seinen dicken, kurzen Fingern zeichnet er ein Kreuz in die Luft.
»Und bei der Reserve? Weizengrütze, Brot wie Lehm, vielleicht noch manchmal einen Hering. Und Dienst von früh bis spät – Dienstvorschriften, Gefechtsvorschriften, leichte Maschinengewehre … Wollt ihr Sonnenblumenkerne?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schüttet er uns kleine geröstete Sonnenblumenkerne in die Hand.
»Jetzt weiter.« Er beugt sich leicht vor und spricht in geheimnisvollem Flüsterton: »Ich habe hier einen Hauptmann kennengelernt und werde euch mit ihm bekannt machen. Ein guter Kerl. Er hat in einem Divisionsstab als Chefgehilfe für Aufklärung gearbeitet. Wir sind ins Gespräch gekommen. Dabei stellte sich heraus, daß wir gemeinsame Bekannte haben. Kurzum – in fünf, sechs, höchstens zehn Tagen wird Oberstleutnant Schuranskij hierherkommen. Kennt ihr ihn? Ein Prachtkerl! Ich bin mit ihm auf du. Haben zusammen getrunken … Und er, dieser Schuranskij, wird alles in Ordnung bringen. Jetzt ist er nach Moskau abkommandiert. In einer Woche wird er hier sein. Mein Rat ist übrigens folgender: Macht kehrt! Habt ihr eine Unterkunft? Ich werde euch auf dem laufenden halten …«
Er springt plötzlich auf und steckt die Sonnenblumenkerne in die Tasche.
»Einen Augenblick. Wartet auf mich … Mit dem Major da muß ich ein paar Wörtchen sprechen …«
Er rückt die Mütze zurecht und verschwindet um die Ecke.
Wir gehen in das Haus mit den schmutzigen Fenstern. Ein blaß wirkender Leutnant mit blankgeputzten Stiefeln teilt uns mit, daß sich die Ingenieurabteilung in der Turkestanstraße befinde, dort würden alle Pioniere registriert. Alle anderen – wie Schützen, Artilleristen – melden sich im Zimmer Nr. 5, von elf bis siebzehn Uhr.
Wir gehen in die Turkestanstraße. Igor beschließt, sich für einen Pionier auszugeben.
»Hol der Teufel die Gasabwehr! Ich bin ihrer überdrüssig. Du wirst mir im Laufe von drei Tagen die ganze Weisheit beibringen.«
In der Turkestanstraße wieder ein Leutnant – diesmal ein schwarzer, in Zelttuchstiefeln. Dann ein Major. Dann fünf Fragebogen und – »Kommen Sie morgen gegen zehn Uhr.«
Am nächsten Tag um zehn Uhr füllen wir wieder Fragebogen aus, und mit einem Zettelchen: »An Major Sabawnikow, in die Reserve übernehmen« marschieren wir in die Usbekenstraße Nr. 16.
Dort finden wir etwa zwanzig Mann, alles Pionieroffiziere. Auf den Fensterbrettern sitzend, trinken sie Tee, rauchen, schimpfen auf die Reserve. Der Major ist nicht da. Dann
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