Stalingrad
verführerisches Lächeln, zweifelhafte Witze.
Im Zoo trauert wie früher der Elefant, die Affen tollen herum, und die dicke, faule Boa träumt in der Ecke ihres Käfigs auf altem Stroh.
Am »Haus der Roten Armee« werden regelmäßig die »Stalingrader Prawda« und die »Iswestija« in die Schaukästen gehängt. In der städtischen Bibliothek, deren Balkon direkt auf die Wolga geht, gibt eine sympathische alte Frau mit einer Frisur aus den achtziger Jahren Bücher von Balzac aus und bittet, keine Eselsohren in die Blätter zu machen.
Jungen schießen aus Schleudern nach Spatzen, spielen Krieg, »Fritzen und Unsere«, die Mädchen »Himmel und Hölle« und hüpfen auf einem Bein.
So schleicht der August dahin, stickig, wolkenlos und staubig. Einmal begegne ich Kalushskij in einer neuen Feldbluse und einer Mütze mit blinkendem Schirm. Er hat sich in einem Lazarett den Posten als Leiter der Verpflegungsabteilung verschafft. Jetzt wird das Lazarett nach Astrachan evakuiert, und er hat alle Hände voll zu tun. Eine Unmenge Verwundeter und keine Transportmittel, mit einem Wort, »an der Front ist es besser«. Übrigens, falls ich Zucker brauchte, so könnte er mir etwa zehn Kilo ablassen, einerlei, es wird doch nicht gelingen, alles fortzuschaffen, man wird es sowieso der Front überlassen müssen.
Ich weiß, daß Walega auf mich schimpfen wird, sage aber, ich hätte keine Zeit. Das Gespräch ist damit beendet. Er winkt fröhlich mit der Hand und fährt auf einem Lastwagen, der bis obenhin mit ausgeweideten Hammeln beladen ist, hinüber zum anderen Ufer der Wolga. Ich folge ihm mit den Augen und gehe zur Post. Vielleicht ist doch etwas da, »postlagernd«.
13
Am Sonntag wache ich früher auf als gewöhnlich. Von irgend woher sind Flöhe eingeschleppt worden, und ich kann keinen Schlaf finden. Igor und die beiden anderen schlafen noch.
Ich stehe auf und gehe in die Küche. Sedych bäckt auf dem Primuskocher Fladen. Walega bastelt am Lautsprecher herum. Er träumt schon seit langem von einem Radio.
Durch das Fenster blinkt blendend die Wand des gegen überliegenden Hauses, das von der Sonne übergossen ist, und ein Stück des farblosen, durch die Hitze gleichsam ausgeblichenen Himmels.
In die Fabriken werde ich heute nicht gehen. Die Skizzen sind fertig, die Menge des benötigten Sprengstoffes ist errechnet, die Instruktion wird von Tag zu Tag verschoben. Bis zum heutigen Tage sind Sprengkommandos noch nicht zusammengestellt.
Ich ziehe Igor den Mantel herunter.
»Steh auf. Wir wollen zur Wolga gehen und baden.« Er blickt unzufrieden drein und versucht, sich den Mantel übers Gesicht zu ziehen, brummt, steht aber dennoch auf und zwinkert mit seinen verschlafenen Augen.
Sedych bringt die zischenden Fladen auf der Bratpfanne herein.
»Heute morgen hat man einen Fritzen abgeschossen.« Er stellt die Pfanne auf einen Ziegelstein. »Ich habe es selbst gesehen. Zuerst fing er an zu rauchen, hinterließ einen langen schwarzen Schwanz, neigte sich immer mehr auf die eine Seite und stürzte dann außerhalb der Stadt ab. Offenbar ist der Motor getroffen worden.«
»In der Stadt ist viel Flak«, sagt Schapiro und steigt von seinen Stühlen herunter. »Es sollen fünfundzwanzig Batterien sein.« Er hat eine Vorliebe für Zahlen und Berechnungen.
»Wenn sie gleichzeitig das Feuer eröffnen, so können sie in einer Minute nicht weniger als siebenhundertfünfzig Geschosse abfeuern.«
»Wie viele Flugzeuge haben denn die Deutschen?« fragt Igor. Er macht sich immer über ihn lustig, aber Schapiro beachtet das gar nicht.
»Zu Anfang des Krieges waren es an zehntausend, jetzt sind es wahrscheinlich mehr.«
»Warum?«
»Das ist eine einfache Rechnung. Wenn man annimmt, daß sie hundert Flugzeugwerke haben und jedes davon täglich ein Flugzeug herstellt, ich nehme ein unwahrscheinliches Minimum an, so macht das dreitausend Stück pro Monat. Solche Verluste aber können sie nicht haben, also …«
»Kommst du mit an den Strand?« unterbricht Igor.
»Nein, ich habe einen Furunkel, den sechsten im Laufe dieses Monats, und an einer ganz unangenehmen Stelle. Kann immer nur auf der einen Hälfte sitzen …«
Stalingrad hat keinen Strand. Wir springen direkt von den Flößen in die fettigen, von Erdöl perlmuttgefärbten Wellen. Das Wasser ist lau, als ob es angewärmt wäre.
Später liegen wir auf den Baumstämmen und blicken mit zusammengekniffenen Augen auf die Wolga. Sie glänzt so, daß es blendet. Sie ähnelt gar nicht
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