Stalingrad
ihres Kommandeurs wahrscheinlich mit einem roten Kreuzchen gekennzeichnet war.
Ich stand noch lange da und horchte auf die Marschtritte, die sich entfernten und schließlich ganz verhallten …
Es gibt Einzelheiten, die einem für das ganze Leben im Gedächtnis haftenbleiben. Und nicht nur haftenbleiben. Klein, scheinbar unbedeutend, bohren sie sich in dich ein, wachsen sich zu etwas Großem, Bedeutendem aus, werden zu Symbolen.
Ich entsinne mich eines gefallenen Soldaten. Er lag auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet, auf seiner Lippe klebte ein Zigarettenstummel – ein kleiner, noch rauchender Stummel. Und das war schrecklicher als alles, was ich vorher und später im Kriege gesehen habe, schrecklicher als zerstörte Städte, aufgerissene Bäuche, abgerissene Hände und Füße. Ausgebreitete Arme und ein Stummel auf den Lippen. Eine Minute vorher waren da noch Leben, Gedanken, Wünsche und jetzt – Tod …
In jenem Liede aber, in jenen einfachen Worten von der »wie Butter so fetten Erde« und vom »mannshohen Getreide« lag auch etwas … Ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll. Tolstoi nannte es – die verhaltene Wärme des Patriotismus. Vielleicht ist das die beste Definition. Vielleicht ist es eben jenes Wunder, worauf Georgij Akimowitsch wartet, das Wunder, das stärker ist als deutsche Organisation und Panzer mit schwarzen Kreuzen.
Ich sehe jetzt zu Georgij Akimowitsch hinüber. Klein, gallig, in seiner glänzenden Jacke sitzt er zusammengekrümmt auf den Stufen, mit angezogenen mageren und spitzen Knien. Wahrscheinlich herrscht bei ihm zu Hause ein schreckliches Durcheinander, die Kinder ärgern ihn, und mit der Frau zankt er sich. Wahrscheinlich hat er auch vor dem Kriege alles schlecht gefunden, und alles hat ihn geärgert.
Und gestern ist vor meinen Augen neben ihm ein Geschoß explodiert, als er gerade eine gestörte Stelle suchte. Es geschah in etwa zwanzig Schritt Entfernung, nicht weiter. Er neigte sich nur leicht zur Seite, umwickelte die beschädigte Stelle und kontrollierte dann noch die ganze Leitung in der Nähe der Explosion.
»Sie müssen verstehen«, sagte er mir nachher, »mit diesem Werk ist mein ganzes Leben verknüpft. Ich bin als Praktikant hierhergekommen, als über diesen Platz noch Leute mit einem Theodolit gingen. Vor meinen Augen wuchsen das Kraftwerk und alle diese Werkabteilungen aus dem Boden. Ich habe fünf Nächte nicht geschlafen, als man den Generator Nr. 6 aufstellte, Sie kennen ihn, den amerikanischen, den zweiten vom Fenster. Ich kenne sie alle in- und auswendig, den Charakter, die Gewohnheiten eines jeden. Verstehen Sie, was für mich diese Sprengung bedeutet? Nein, Sie können es nicht verstehen. Sie sind Militär – euch tut einfach das Werk leid, und das ist alles, aber für mich …«
Er sprach nicht zu Ende, sondern ging fort zu seiner Wheatstoneschen Brücke.
Vor anderthalb Monaten hatten Igor und ich auf einem Knorren am Wege gesessen und zugesehen, wie sich unsere Truppen zurückzogen. Eine Frontlinie existierte nicht, es gab nur Straßen, auf denen Autos fuhren, irgendwohin, und Menschen gingen – auch irgendwohin …
Das war vor anderthalb Monaten gewesen – im Juli.
Jetzt ist es September. Wir sind schon den zehnten Tag in diesem Werk. Den zehnten Tag greifen deutsche Flugzeuge die Stadt an. Sie werfen Bomben – das bedeutet, daß die Unseren noch da sind; bedeutet, daß Kämpfe im Gange sind; bedeutet, daß es eine Front gibt; bedeutet, daß es jetzt besser ist als im Juli …
Neben dem Kraftwerk schlägt eine Granate ein. Der Nachmittagsbeschuß beginnt. Von drei bis halb vier, mit der Pünktlichkeit eines Uhrwerks. Nach einer halben Stunde muß man das Netz reparieren gehen. Walega und Sedych laufen mit den Eßgeschirren fort, um Mittagessen zu holen.
17
Etwa zwei Tage später, am frühen Morgen, erscheint Goldstab in unserem Graben, mit ihm nicht weniger als zehn Offiziere.
Wir sitzen auf den Stufen des Grabens und basteln Zigarettenetuis aus Zelluloid. Im Laboratorium des Werkes liegen Tonnen verschiedenartigsten Zelluloids sowie Birnätheressenz, die hübsch in allen Farben schimmert, in großen Apothekerflaschen. Wir sind vollauf mit unseren Zigarettenetuis beschäftigt, sägen, schaben, kratzen, schneiden, und reißen uns nur los, um das Netz zu reparieren oder Mittagbrot zu essen.
»Jetzt müssen wir Abschied nehmen«, sagt Goldstab und dreht in seinen Händen ein winzig kleines Etui Igors mit einem Schiebedeckel. »Ihre
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