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Stalingrad

Stalingrad

Titel: Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Nekrassow
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von der Zivilbevölkerung, spreche erst recht nicht von den gut fünfzig Millionen Menschen – mehr als ganz Frankreich –, die wir verloren haben. Sind wir noch imstande, das alles zu überwinden? Was meinen Sie, sind wir imstande?«
    »Ja, wir sind imstande … Im vergangenen Jahr war die Lage noch schlimmer. Die Deutschen standen vor Moskau, und dennoch haben wir sie zurückgeworfen.«
    »Nun, sehen Sie, ich bin nicht ganz sicher, ob die Lage damals schlimmer war. Das Donezbecken, Rostow, Kuban, Maikop – waren damals in unserer Hand. Jetzt sind sie es nicht mehr. Der Nachschubweg auf der Wolga ist praktisch abgeschnitten. Begreifen Sie, welchen Weg nun das Bakuöl zurücklegen muß? Sie werden sagen, daß das Kusnezbecken, Barnaul, Ural ja noch unser sind. Stimmt! Das sind mächtige Industrieknotenpunkte. Aber zu Anfang des Krieges besaßen wir außerdem noch Kriwoj Rog, Nikopol, Saporoshje, Mariupol, Kertsch, Charkow. Das ist alles verloren. Einen Teil der Werke haben wir evakuiert, aber evakuieren – das heißt noch nicht in Gang setzen. Und unterdes, sehen Sie, was vor sich geht.«
    Über uns kehrt gerade eine Staffel Ju 88 von einem Luftangriff zurück. Sie schwenken langsam zu einem neuen Angriff um.
    »Sie fliegen sogar ohne Jäger. Fliegen ungestraft, diese Schweinehunde.«
    Wir schweigen einige Zeit und verfolgen am Himmel die schwarzen, widerlichen, so ruhig und von ihrer Kraft überzeugt dahinfliegenden Flugzeuge. Georgij Akimowitsch raucht eine Zigarette nach der andern. Rings um ihn liegen schon etwa zehn Stummel. Er starrt immer nach dem einen Punkt, dorthin, wo die Flugzeuge verschwunden sind.
    Igor sitzt und wirft Steinchen in eine Konservenbüchse, die unweit von ihm steht. Die Steine fallen daneben und wollen die Büchse nicht treffen. Es scheint, als sei er ganz in diese Beschäftigung vertieft.
    Plötzlich steht er auf.
    »Nein, es darf nicht sein. Sie werden nicht weiterkommen. Ich weiß, sie werden nicht weiterkommen.«
    Er geht fort.
    Es darf nicht sein … Das ist alles, was wir vorläufig sagen können.
    Es hat doch auch einmal – zum Teufel! – das Jahr sieb zehn gegeben! Und die Jahre achtzehn und neunzehn! Damals war es doch noch schlimmer. Typhus, Verfall, Hunger. Der »Maxim« und das Infanteriegeschütz, das war alles. Und dennoch haben wir es geschafft. Und haben dann das Dnjeprkraftwerk gebaut und Magnitogorsk, und diesen Betrieb hier, den ich jetzt sprengen muß …
    Ich weiß, daß Georgij Akimowitsch zu alldem nur lächeln würde, nachsichtig lächeln. Wenn er darüber spricht, so spricht er immer so, als ob wir kleine Kinder wären. Er lächelt und sagt etwas wie: daß es eben das vierte Kriegsjahr sei, das nicht nur uns erschöpft habe, sondern alle, und daß die französischen, englischen und deutschen Soldaten nicht mehr kämpfen wollten, und noch so etwas Ähnliches.
    Einmal hat er gesagt:
    »Wir werden bis zum letzten Soldaten kämpfen. Die Russen kämpfen immer so … Aber Chancen haben wir dennoch wenig. Nur ein Wunder kann uns retten, sonst werden wir erdrückt, erdrückt durch Organisation und Panzer.«
    Ein Wunder?
    Unlängst in der Nacht sind Soldaten vorbeimarschiert. Ich hatte am Telefon Wache und war hinausgegangen, um zu rauchen. Sie gingen und sangen mit halber Stimme. Ich habe sie nicht einmal gesehen, habe nur ihren Schritt gehört auf dem Asphalt und ihr leises, ein wenig trauriges Lied vom Dnjepr und den Kranichen. Ich trat an sie heran. Die Soldaten hatten sich gelagert, längs des Weges auf dem niedergetretenen Grase unter den Akazien. Die abgeschirmte Glut ihrer Zigaretten glimmte. Und eine junge, leise Stimme unter den Bäumen drang an mein Ohr:
    »Nein, Wasja … Schweig lieber. Bessere als die Unseren findest du nirgends, Ehrenwort. Wie Butter, so fett und echt ist die Erde.« Er schmatzte sogar dabei, auf eigentümliche Art. »Zur Reifezeit steht das Getreide übermannshoch …«
    Und die Stadt brannte, und rote Schatten tanzten auf den Mauern der Werke, und irgendwo, gar nicht weit entfernt, knatterten Maschinenpistolen – bald häufiger, bald seltener, und Raketen stiegen hoch, und vor uns lag Ungewißheit und der fast unabwendbare Tod.
    So habe ich denn auch den nicht gesehen, der gerade gesprochen hatte. Jemand rief: »Fertigmachen zum Marsch!« – Alles geriet in Bewegung. Eßgeschirre klapperten. Dann ging es weiter. Sie marschierten mit langsamen, schweren Soldatenschritten. Marschierten einem unbekannten Ort entgegen, der auf der Karte

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