Stalingrad
Kanone – schießt und schweigt, schießt und schweigt, als ob sie dem Schuß nachlausche. Maschinengewehre bellen. Raketen steigen hoch. Heute sind es gelbe; wahrscheinlich sind die weißen bei den Deutschen zu Ende gegangen. Es riecht nach verbranntem Holz und Petroleum. Ein paar Schritte von uns entfernt stehen Eisenbahnzisternen mit Treibstoff. Am Tage kann man sie von hier aus gut sehen. Tagelang fließt in dünnen Strahlen das Petroleum aus den von Kugeln durchlöcherten Zisternen. Die Soldaten laufen in der Nacht hin, um ihre Lampen aufzufüllen.
Nach alter, noch aus der Kindheit stammender Gewohnheit suche ich am Himmel bekannte Sternbilder. Der Orion:
vier helle Sterne und ein Gürtel aus drei kleineren, und noch einer, ein ganz kleiner, beinahe unsichtbarer … Einer von
ihnen heißt Beteigeuze, ich weiß nicht mehr, welcher. Irgendwo muß der Aldebaran sein, aber ich habe vergessen, wo er sich befindet.
Jemand legt mir die Hand auf die Schulter. Ich zucke zusammen.
»Woran denkst du, Bataillonskommandeur?« Mit Mühe erkenne ich in der Dunkelheit Karnauchows massige Gestalt.
»Bloß so … an nichts … blicke in die Sterne.« Er antwortet nicht. Wir stehen und schauen zu den blinkenden Sternen empor. Gedanken tauchen auf, die für gewöhnlich in den Tiefen des Bewußtseins verborgen liegen, Gedanken über die Unendlichkeit, über den Kosmos, über verschiedene Welten, existierende und untergegangene, die noch bis zum heutigen Tage über uns blinken aus der Dunkelheit des endlosen Weltenraumes. Sterne erlöschen, flammen auf … Und wir wissen von nichts. Und niemals wird es jemand erfahren, daß in dieser dunklen Oktobernacht ein Stern erloschen ist, der Jahrmillionen geleuchtet hat, oder daß ein neuer geboren wurde, den man nach Jahrmillionen erst entdecken wird.
»In Sibirien liegt schon Schnee«, sagt Karnauchow. »Sicherlich«, antworte ich.
»Und Frost ist.«
»Und die Milch verkauft man als Eis in Stücken.« »Und in Wladiwostok badet man noch.«
»Man sagt, das Meer sei dort kalt.«
»Ja. Trotzdem badet man dort.«
Irgendwo, weit, weit hinter der Wolga, kaum vernehmbar, knattert ein »Kukurusnik«. Vielleicht unserer? Und der Spähtrupp ist noch immer nicht zurück. Wir horchen auf das sich nähernde Geräusch. Es kommt von rechts her, kommt näher und verschwindet wieder. Nicht unserer. Dumpfe
Explosionen weit hinter dem Traktorenwerk. Aufgeregt tasten die deutschen Scheinwerfer den Himmel ab, ihre Strahlen werden breit, wieder schmal, erlöschen, flammen wieder auf.
Wir stehen und sehen auf die Scheinwerferstrahlen, auf die sich in der Luft windende rot-gelb-grüne Kette der deutschen Flakgeschosse, auf die langsam erlöschenden Raketen über der Schlucht. Und so sehr haben wir uns schon an dieses Schauspiel gewöhnt, daß, wenn es plötzlich aufhörte, uns ganz seltsam zumute sein, uns etwas fehlen würde. »Nun, Bataillonskommandeur, werden wir die Höhe nehmen?« fragt Karnauchow ganz leise dicht an meinem Ohr. »Wir werden sie nehmen«, antworte ich.
»Ich meine auch, daß wir sie nehmen werden.« – Und er berührt leicht meine Schulter mit der Hand »Wie heißen Sie mit Vornamen?« frage ich.
»Nikolai.«
»Und ich Jurij.«
»Jurij? Mein Bruder heißt auch Jurij. Er ist Matrose.« »Ist er noch am Leben?«
»Ich weiß nicht. Er war in Sewastopol. Auf einem Unterseeboot.«
»Er lebt gewiß noch«, sage ich.
»Gewiß«, gibt Karnauchow etwas zögernd zur Antwort.
Mehr sprechen wir nicht.
Hoch am Himmel fällt eine Sternschnuppe. Eine Seele ist in die andere Welt gewandert – sagte man früher … Wir gehen nach unten.
In den Rauchschwaden kann man kaum die Gesichter erkennen. Die von der politischen Abteilung haben sich hingehockt und essen Konserven. Der Nachrichtenleiter schläft, an die Wand gelehnt, mit hängendem Kopf. Der Hauptmann liest Zeitung beim Lichte der Petroleumlampe. Bei unserem Anblick hebt er den Kopf.
»Drei Viertel zehn.«
»Drei Viertel zehn …«
»Und der Spähtrupp ist noch nicht da.«
»Noch nicht.«
»Das ist schlimm.«
»Mag sein.«
Mit einer Sicherheitsnadel pule ich den Docht heraus. Die Lampe leuchtet kaum noch, die Luft reicht nicht aus. »Ich bitte alle, die nicht direkt an der Operation teilnehmen, sich in den Bataillonsgefechtsstand hinüberzubegeben.«
Die Augen des Hauptmanns werden ganz rund. Er legt die Zeitung beiseite.
»Warum?«
»Darum …«
»Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß Sie mit einem Rangälteren
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