Stalingrad
bloß damit er mir nicht vor den Augen herumquirlt.
Ich werfe mich auf die Pritsche. Der Schädel brummt mir. Der Telefonist in der Ecke liest in einem dicken, zerflederten Buch.
»Gib her! Könntest dich nützlicher beschäftigen …«
Ich nehme ihm das Buch weg. »Die schweren Tage von Sewastopol« – Dritter Band. Ohne Anfang, ohne Ende. Wahrscheinlich zum Rauchen verwendet. Schlage aufs Geratewohl eine Seite auf.
»… Die Verluste in den Regimentern waren groß. Ersatz, wenn überhaupt welcher kam, war so gering, daß selbst die Bezeichnungen wie ›Regiment‹, ›Bataillon‹, ›Kompanie‹ ihre gewöhnliche Bedeutung verloren hatten.
In einer kämpfenden Einheit wie dem Wolynskij-Regiment zum Beispiel waren statt viertausend nicht mehr als tausend Mann …«
Nicht mehr als tausend. Und bei uns? Wenn in meinem Bataillon achtzig Mann sind und im Regiment drei Bataillone, macht es zweihundertvierzig, plus Artilleristen, Gasabwehr, Telefonisten, Aufklärer – noch etwa hundert Mann. Alles in allem etwa dreihundertfünfzig. Nun, hoch gerechnet, vierhundert oder fünfhundert … Und der Divisionskommandeur sagte, in den anderen Regimentern seien es noch weniger. Und wie viele von ihnen sind denn noch kampffähig? Nicht mehr als ein Drittel. Was soll werden, wenn es den Deutschen langweilig wird, den »Roten Oktober« zu bombardieren? Wenn sie uns wieder angreifen, Panzer auf Farber loslassen? Allerdings würde sie dort der Bahndamm hindern, aber sie können ungehindert unter der Brücke durchkommen, dort, wo bei ihnen das Maschinengewehr und die Kanone stehen … Was soll ich dann machen? Sechzehn Mann sitzen in den Löchern, Minen sind nicht vorhanden. Borodin sagt, daß sie in den nächsten drei Tagen herangeschafft werden, sie würden irgendwo ausgeladen … Nehmen wir an, daß man uns nicht betrügt. Noch zwei oder sogar drei Nächte sind aber nötig, um sie zu legen … Also muß man fünf Tage warten und zu Gott beten … Ich blättere weiter:
»… Am besten gingen die Geschäfte der Marketender, die in Reihen ihre geräumigen Zelte aufgestellt hatten. Die Offiziere besuchten jetzt nach dem Sturm diese Zelte, sie waren aus der Stadt, aus der Bastion gekommen, um sich ein wenig zu vergnügen … In diesen gastfreundlichen Zelten befand sich auch ein Büfett mit großer Auswahl an Weinen, Wodka und Gabelbissen. Für die Besucher stand ein Dutzend Tischchen bereit. Sogar eine Küche war da, verborgen hinter dem Büfett. Man aß, trank, riß Witze und lachte fröhlich …«
Eine Küche hinter dem Büfett … ein Dutzend Tischchen für die Besucher …
Ich lege das Buch beiseite, ziehe den Mantel über die Ohren und versuche einzuschlafen.
In der Ecke rumort und ächzt der Telefonist. Ungleichmäßig tickt die Uhr. Walega hat sie irgendwo aufgetrieben: eine kleine, blaue, mit selbstgemachten Zeigern aus Konservenbüchsenblech.
Ich würde jetzt gern ein Schweinskotelett essen, paniert, mit knusprigen Kartoffeln, in dünne Scheibchen geschnitten. Ich glaube, ein Schweinskotelett habe ich das letzte Mal gegessen … weiß der Teufel wo, ich weiß nicht einmal mehr . . . In Kiew, was? Oder schon bei der Armee … Aber nein, das war kein Schweinskotelett, es war einfach gebratenes Fleisch …
Ich drehe mich auf die andere Seite. Die Augen brennen von der rußenden Lampe.
Um halb elf wird der »Kukurusnik« angeflogen kommen, um elf muß ich den Angriff beginnen. Nach Mitternacht wird der Mond aufgehen. Also werde ich eine Stunde und fünfzehn Minuten zu meiner Verfügung haben. In dieser einen Stunde und fünfzehn Minuten muß ich zur Schlucht hinuntersteigen, am gegenüberliegenden Hang wieder hochklettern, die Deutschen aus den Laufgräben verjagen und mich festsetzen. Und wenn der »Kukurusnik« sich verspätet? Oder werden es vielleicht gar zwei oder drei sein? Der Divisionskommandeur hat gesagt, ich weiß es noch genau, die »Kukurusniks« und nicht der »Kukurusnik« … Wie dumm, daß ich nicht genau gefragt habe, wie viele es sein werden. Sobald der erste seine Bomben abgeworfen hat, werde ich anfangen – und dann wird der zweite angeflogen kommen, und angreifen muß man gleich danach, ehe die Deutschen wieder zur Besinnung gekommen sind … Ich muß beim Major anrufen, daß er genau beim Divisionskommandeur feststellt …
Was für schwarze, durchdringende Augen er hat, dieser Divisionskommandeur. Es ist schwer, lange in sie zu blicken.
Man erzählt, daß er im Sommer bei Kastornaja die
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