Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm

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Fleisch mit einer schnellen Bewegung aus der Hand, riss mit den Zähnen ein Stück ab und begann gierig zu kauen. Als der erste Bissen seinen Magen erreichte, wurde ihm schwindlig.
    Gross hielt ihn fest. »Wenn das ihre Mutter sehen könnte!«
    »Das Herz würde ihr im Leib zerspringen«, murmelte Hans. Dann lachte er auf und schlug erneut die Zähne in das Fleisch.
    Die Soldaten waren noch mit de n letzten Resten ihres Mahls beschäftigt, als Bubi plötzlich »Achtung!« schrie.
    Hauptmann Musk trat zwischen die Männer. Der Leutnant machte Meldung. Ab sofort würden sie wieder zu seiner Einheit gehören, teilte Musk seinen fünf ehemaligen Soldaten mit. In zehn Minuten Abmarsch nach Goroditsche.
    Goroditsche! Das bedeutete raus aus dieser Schneewüste! Häuser! Einen funktionierenden Ofen. Vielleicht andere Klamotten. Vielleicht sogar Brot.
    Rollo fühlte, wie ihm Tränen der Erleichterung in die Augen stiegen.
    »Mensch, Herr Hauptmann!«, entfuhr es ihm. »Ich hab immer gewusst, Sie vergessen uns nicht!«
    »Ich hoffe, das habt ihr alle gewusst«, erwiderte der Hauptmann. »Und jetzt, Männer, wollen wir wieder anständige Soldaten aus euch machen.«
    »Gibt’s dafür auch was zu fressen?«, fragte Fritz halblaut.
    Der Hauptmann musterte ihn kalt. »Dafür gibt’s noch viel mehr, Reiser.« Seine Stimme klang plötzlich scharf. »Nämlich die Ehre, ein deutscher Soldat zu sein. Los, packt euren Krempel!«

    Musk trat neben Gross, der hinter dem MG kauerte, als wäre er dort festgewachsen. »Willst du nicht packen?«
    »Ich hab kein Gepäck. Ihr rechnet also damit, dass die Russen diese Eiterbeule bald wegoperieren?«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Du holst uns raus, weil wir hier ohnehin bald völlig wertlos sind.«
    »Du täuschst dich. Vielleicht möchte ich dich gern in meiner Nähe haben.«
    »Rücken an Rücken beim Endkampf auf den Ruinen.«
    »Mag sein.« Gross fühlte plötzlich die Hand des Hauptmanns auf seinem Arm. »Gleichgültig, wie es kommt. Es wäre schön, wenn wir wieder Freunde sein könnten.«
    »Auch der Erfüllungsgehilfe eines Massenmörders braucht menschliche Wärme«, sagte Gross heiser. »Aber mich lass dabei aus dem Spiel.«
    Musk nahm die Hand weg. »Gerade du solltest für die Fehler unseres Führers mehr Verständnis aufbringen.« Seine Stimme hatte wieder zu ihrem kühlen, überlegenen Klang zurückgefunden. »Niemand ist grausamer als ein von der Muse missachteter Künstler. Das müsstest du am besten wissen.«
    Gross wandte sich langsam um und maß Musk hasserfüllt von oben bis unten.
    »Komm jetzt!« Musk drehte ihm den Rücken zu und ging zum Unterstand zurück.
    Gross folgte ihm mit schleppenden Schritten. Der schmale, gerade Rücken des Hauptmannes zog ihn hinter sich her wie ein Magnet, und er verfluchte sich dafür, dass er nicht die Kraft hatte, ihn zu töten.






    64


    G oroditsche wuchs nach einem zweistündigen Fußmarsch vor ihnen aus dem Nebel. Aus der Ferne wirkte es friedlich, ein verschneiter kleiner Ort, wie eine Miniatur in der Glaskugel. Sie schleppten sich zwischen Mandelbaumstümpfen auf die Kasematten zu, in deren Eingeweide die Verwundeten verfaulten, dann die Straße entlang, die sie vor zwei Monaten mit Flammenwerfern desinfiziert hatten, und über einen vereisten Pfad an ihrem ehemaligen Etappenquartier vorbei. Sie erklommen eine Böschung.
    Gross stolperte im Fieber deliri erend hinter dem Hauptmann her.
    »Das erinnert mich an unsere Gipfelstürmerei«, krächzte er. »Der Berg und das Kreuz darauf. Di e wichtigsten Symbole der abendländischen Kultur. Das Zeichen des Leidens auf den Gipfeln der bezwungenen Natur.« Er erreichte den Rand der Böschung und sog tief die eiskalte Luft ein. »Ein Höhengeruch des Schmerzes.«
    Rollo stieß ihn weiter, hörte un deutlich seinen gemurmelten Protest zwischen dem gleichmäßigen Knirschen der Stiefel im Schnee.
    »Das ist es, was wir lieben – eine ausweglose Situation«, fuhr Gross fort. »Kämpfend unterzugehen. Sinnlosigkeit offenbaren.« Er bemühte sich, seinen eigenen Gedanken zu folgen, so wie den Offiziersstiefeln vor ihm. »Selbstve rständlich nur für fortgeschrittene Menschen ein Genuss.« Er lachte. »Wir suhlen uns in der Leere, als badeten wir in höchster Erkenntnis. Wir verpesten die Welt mit Blutgeruch, sobald unsere Nasen, angstbetäubt, die allgemeine Bedeutungslosigkeit gewittert haben. Wichtig müssen wir sein, und sei es, zu Krüppeln gehackt.«
    Sein