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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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allerdings nur den Knast eingebracht hatte.
    Inzwischen war es so dunkel geworden, dass sich die Essenholer wieder auf den Rückweg machen konnten. Sie legten Pflüger auf eine Zeltbahn, die an zwei langen Eisenrohren befestigt war. Fritz wollte ihm die Uhr des Reporters zustecken, aber Pflüger begann wieder zu schreien.
    Der Leutnant nahm Fritz die Uhr aus der Hand. »Haben Sie was dagegen, Pflüger, wenn ich sie Wölks Frau schicke?«
    Pflüger schüttelte heftig den Kopf, sah den Leutnant an, runzelte krampfhaft die Stirn. »Nicht der Frau!«, stieß er abgehackt hervor. »Weil sie kauft einen Hund, und Hunde mag er nicht.«
    Hans nickte. Er musste schlucken, um nicht zu weinen. Ausgerechnet bei Pflüger, dachte er. »Mach’s gut, Pflüger.«
    Ein Essenholer band Pflüger ei nen Schal vor den Mund. Der Melder gab nach hinten durch, dass die Verpflegungskolonne mit einem Verletzten im Anmarsch sei.
    Pflüger wurde hinausgetragen, und das Ächzen der Trage war noch eine ganze Weile zu hören.

 
     
     
     
     
     
    37
     
     
    W ieder verging eine lange Nacht. Da auch die Tage nicht besonders hell waren, fiel es den Männern nicht mehr auf. Sie waren wie Fliegen, die ziellos in einem zähen, grauen Einheitsbrei aus Kälte, Nässe und Dreck schwammen, und mit einer Schicksalsergebenheit, die nur das Gefühl der Ausweglosigkeit erzeugen kann, auf Erlösung warteten. Erkältungen, Fieber und Darminfektionen waren zu schlimmeren Feinden als die Russen geworden, die unsichtbar mit ihnen Tür an Tür lebten.
    Gross hockte frierend hinter dem sMG. Gelegentlich zuckten seine Schulterblätter in einem lautlosen Husten. Hin und wieder glaubte er, einen Hauch Schneeluft zu riechen, aber bei dem allgegenwärtigen Rauch-, Fäkalien- und Leichengeruch war das wohl eher Einbildung.
    Der Gemeine Müller sicherte den verminten Treppenaufgang. Den Leutnant hatten heftige Magenschmerzen wieder einmal aus dem Schlaf gerissen und zwangen ihn in den Nebenraum. Nachdem er dort seine Notdurft verrichtet hatte, trat er zu Gross.
    »Woran denken Sie?«, fragte er.
    Gross ließ sich viel Zeit für die Antwort. »Woran ich denke? Ich denke zum Beispiel, dass Sie dringend einen guten Rat brauchen.«
    »Was für einen?«
    »Verschwinden Sie von hier, solange Sie noch können.«
    »Ich habe um meine Versetzung ersucht«, gestand Hans. »Aber jetzt will ich nicht mehr.«
    »Aha.« Gross nickte. »Jetzt wollen wir ein Held sein, die Angst überwinden.«
    »Auch das.«
    »Angst gehört dazu«, murmelte Gross. »Sie zeigt mir, dass ich noch lebe. Ich bin dankbar für alle Angst, die ich noch empfinde. Und für mein Selbstmitleid. Selbstmitleid ist das beste Mittel, um zu überleben. Weinen Sie um sich, nicht um die anderen, am wenigsten um diejenigen, die Sie umgebracht haben. Dann haben Sie eine Chance, diesen Krieg heil zu überstehen. Kommen Sie«, er legte Hans den Arm um die Schultern, »weinen wir ein wenig zusammen. Sonst weint ja doch keiner um uns. Die Generäle weinen höchstens um ein zerstörtes Bauwerk oder eine kaputte Brücke, aber zehntausend Mann werden mit einem Federstrich abgeschrieben.«
    Hans befreite sich wüt end aus der Umarmung. »Unsinn!«
    »Jeder Tropfen Öl, jedes Korn Weizen, jede Schaufel Kohle, die erobert wird, ist mehr wert als ein Menschenleben.«
    »Das ist doch Blödsinn«, erwiderte Hans kalt.
    Er wollte noch etwas sagen, aber Gross stoppte ihn mit einer Handbewegung.
    »Irgendwas gefällt mir nicht«, murmelte er. Sie warteten eine Weile, aber nichts rührte sich. Von oben hörte man einen Russen husten.
    »Schön, wenn man freundliche Nachbarn hat«, murmelte Gross. Dann verfiel er wieder in seinen spöttischen Tonfall. »Der Krieg ist eine wunderbare Sache. Der Staat macht uns zu Mördern und nimmt uns die Verantwortung dafür ab. Ein sauberes Geschäft. Und wir werden nicht mal mit Geld, Land oder Weibern, sondern mit Ruhm und Ehre bezahlt. Rentabler geht’s wirklich nicht.«
    »Wir wissen beide nicht, ob dieser Krieg politisch notwendig war. Aber Sie können nicht bestreiten, dass es Selbstverteidigungskriege gibt, die notwendig sind.«
    »Aber ja! Politik ist die Kunst, Situationen zu schaffen, in denen Kriege notwendig und unvermeidbar werden. Der Krieg ist der Preis für die Annehmlichkeiten, die uns der Staat gewährt. Aber unsere Verbrecher haben noch nicht einmal den primitivsten Schein gewahrt. Dieser Krieg ist nichts als ein brutaler Raubüberfall. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass wir ihn

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