Stalins Geist
Kasaner Bahnhof stehen. Ein paar Fahrgäste waren bereits herausgekommen und suchten nach Taxis. Die meisten Ankömmlinge jedoch strömten zur Metro nebenan: Ölarbeiter aus dem Ural, Geschäftsleute aus Kasan, eine heimkehrende Ballett-Truppe, Tagesreisende mit Kaviar, den sie verkaufen wollten, Familien mit kleinen Kindern und riesigen Koffern, Pendler und Billigtouristen folgten dem trüben Lichtpfad halb verhüllter Straßenlaternen. Im Dampf ihres Atems eilten sie dahin, die Mützen tief über die Ohren gezogen, Taschen und Pakete fest an sich gedrückt und vielleicht eifriger auf das Abfahren erpicht als darauf, irgendwo anders anzukommen. Der Schnee hatte die üblichen Zuhälter vertrieben, die Zigeuner, die gesunden Landfrauen, die ihr giftiges selbst gebranntes Gebräu verkauften, und die Betrunkenen, die leere Wodkaflaschen einsammelten, um neue zu kaufen - ein gefährliches Unternehmen: Ein Jahr zuvor war fünf Flaschensammlern in der Umgebung der Drei Bahnhöfe die Kehle durchgeschnitten worden. Wegen ein paar leerer Flaschen. Bis die Metro ihre Türen öffnete, würden die Leute sich im Dunkeln in einer Sackgasse zusammendrängen. Milizionäre waren zu den äußeren Eingängen abkommandiert, aber sie kontrollierten im Innern des Bahnhofs die Fahrkarten und kämpften im Warmen gegen tschetschenische Terroristen.
Zum Teil war Arkadi mit seinen Gedanken noch in der blutbespritzten Wohnung der Kusnezows. Er und Isakow hatten offenbar ein Gentlemen’s Agreement befolgt, indem sie Eva nicht erwähnt hatten. Nein, keiner von ihnen beiden nahm irgendetwas persönlich.
Arkadi stöberte zwischen den verrammelten Kiosken umher und trieb zwei Betrunkene heraus, die so wacklige Knie hatten, dass sie nur an der Wand stehen konnten. »Zusammenbleiben!«, befahl er den Leuten, als er zum Metroeingang ging. Eine dichte Front bilden - so viel Grips haben sogar die Yaks, dachte er.
Aber jeder dachte nur an sich. Die Leute, die den Eingangstüren am nächsten waren, verteidigten ihre Position; diejenigen, die hinter ihnen standen, drängten desto heftiger nach vorn, und noch weiter hinten zerstreute sich die Menge allmählich. Plötzlich sah es aus, als fielen Wölfe über eine Herde her: Jungen erschienen in Rudeln zu fünfen oder sechsen aus der Dunkelheit; sie waren in schwarze Müllsäcke gehüllt und trugen Balaklavas, mit denen sie buchstäblich unsichtbar waren. Alte Leute plünderten sie aus, wo sie standen, größeres Wild überfielen sie zu mehreren: Ein Mönch wurde an seiner Kutte auf das Eis gerissen und um sein vergoldetes Kreuz erleichtert. Gerade noch hielt er zwei der Jungen fest, und dann hatte er nichts als Müllsäcke in den Händen.
Arkadi sah sich von Jungen umzingelt. Ihr Anführer war nicht älter als fünfzehn, und er hatte keine Angst, sein Mondgesicht mit dem flaumigen Oberlippenbart zu zeigen. Er hob seinen Müllsack hoch und richtete einen schlanken Revolver auf Arkadi. Der war nicht überrascht, dass der Bengel eine Schusswaffe hatte. Die Eisenbahnpolizei, die unterste Ebene der Polizeikräfte, war immer noch mit hundert Jahre alten Revolvern ausgerüstet. War Georgi über einen betrunkenen Bahnpolizisten gestolpert, der in einem Güterwagen schlief, und hatte er ihm den Revolver abgenommen? Bei den Drei Bahnhöfen waren schon merkwürdigere Dinge passiert.
»Peng«, sagte der Junge.
Schmelzender Schnee tröpfelte Arkadi über den Rücken. »Hallo, Georgi«, sagte er.
»Wie würde Ihnen ein Loch im Kopf gefallen?«, fragte Georgi.
»Nicht besonders gut. Wo hast du den gefunden?«
»Er gehört mir.«
»Das ist eine echte Antiquität. Hat die Sowjetunion überdauert.«
»Funktioniert aber immer noch.«
»Wo ist Schenja?«
»Ich könnte Ihnen das Gehirn wegpusten. »
»Das könnte er wirklich«, sagte der kleinste Junge in der Runde. »Er übt an Ratten.«
»Sind Sie das nicht?«, fragte Georgi. »Sind Sie keine Ratte?« Nach zwei Tagen ohne Schlaf war alles möglich. Der Revolver war ein Nagant, Double Action, und der Hahn war gespannt. Andererseits musste man schon sehr entschlossen auf den Abzug drücken; Georgi würde nicht aus Versehen schießen. Arkadi konnte nicht sehen, wie viele Patronen in der Trommel waren, aber man konnte nicht alles haben.
Er rollte dem kleinen Jungen die Mütze aus der Stirn. »Fedja, du bist heute früh auf.«
Georgi stieß Arkadi mit der Waffe an. »Lassen Sie ihn.«
»Fedja, ich will nur mit Schenja sprechen.«
»Sie hören wohl nicht zu«,
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