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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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sagte Georgi.
    »Er spielt Schach«, sagte Arkadi zu Fedja. »Du solltest ihn fragen, ob er es dir auch beibringt.«
    »Maul halten!«, knurrte Georgi.
    Fedja schaute verstohlen zu einer dunklen Tür hinüber, wo ein Fuß sich aus dem Licht zurückzog. Arkadi spürte Schenjas Blick und sah die Szene aus Schenjas Sichtweise: Das schneebedeckte Schlachtfeld, die Opfer, die mühsam ihre Würde wahrten, und die Gewinner, die ihre Pakete wie Weihnachtsgeschenke davonschleppten.
    Ein Chor von Polizeisirenen kündigte an, dass die Ordnungsmacht unterwegs war. Die Miliz hatte Schlagstöcke, aber wer konnte im Dunkeln erkennen, wen er schlagen sollte? Sie taten ihr Bestes. Unterdessen verschwanden die Jungen; sie zogen sich weniger zurück, als dass sie sich in den Schatten auflösten. Georgi wich zurück und zielte weiter mit dem Revolver auf Arkadi, der beobachtete, wie die Jungen sich sammelten und verdrückten.
    »Schenja! »
    Georgis Gruppe huschte zwischen Mülltonnen hindurch und kletterte über einen Maschendrahtzaun und war im nächsten Moment in Richtung Bahngelände verschwunden. Das Gewirr von Nebengleisen und Zügen dort war nachts immer unübersichtlich, aber jetzt war es ein weißer Irrgarten. Arkadi folgte ihren Fußspuren im Schnee, bis sie alle in verschiedene Richtungen auseinander liefen, sodass ihm schwindlig wurde.
    Er zog sich zum Bahnhof zurück. Taumelnd betrat er die große Bahnhofshalle mit ihrer stillen Atmosphäre, dem angehaltenen Atem der Kronleuchter, den Reihen regloser Gestalten. Als wäre Schlaf die wichtigste Aufgabe des Bahnhofs, wurden die Abfahrten der Züge nicht angesagt. Bringt mich in das romantische Kasan, dachte Arkadi, ins Land der Pfauen und der Goldenen Horde. Er bekam einen so heftigen Hustenanfall, dass er seine Zigaretten fallen ließ. Angewidert hob er die Packung auf, knüllte sie zusammen und warf sie beiseite.
    Als er den Bahnhof an der Vorderseite wieder verließ, sah er - ganz kurz, bevor der Schnee ihm die Sicht nahm -, wie Georgi und Fedja mit einem Jungen, der Schenja hätte sein können, die Verkehrsinsel in der Mitte des Platzes überquerten. Arkadi stolperte die Treppe hinunter und zwängte sich zwischen geparkten Autos hindurch auf die Straße. Trotz der Scheuklappen aus Schnee waren die Lichter auf dem Platz strahlend hell. Straßenbahnen waren noch nicht unterwegs, aber die Oberleitungen summten. Als Arkadi die Verkehrsinsel erreichte, waren die drei Jungen auf halbem Weg zum gegenüberliegenden Gehsteig, aber er war wieder zu Atem gekommen und holte mit jedem Schritt auf, als eine gellende Hupe ihn wie angewurzelt stehen bleiben ließ.
    Die drei drehten sich um, als sie die Fanfare hörten. »Schenja! »
    Arkadi sprang zurück, um einem Schneepflug auszuweichen. Die Maschine bewegte sich durch einen Dunst von Scheinwerferlicht und Schneekristallen, und Schnee wirbelte von der Pflugschar zur Seite. Arkadi konnte nicht vor ihr vorbeilaufen, denn ein zweiter Pflug folgte schräg dahinter, und dann kam ein dritter, schwerfällig mahlend, und versperrte den Gehweg mit einem Schneewall.
     
    Vier
    Arkadi und Eva lagen in dem grauen Licht, das durch die fast unmöblierten Zimmer kroch. Arkadi hatte die Wohnung von seinem Vater geerbt; sie war riesig, verglichen mit seiner alten, die sie aufgegeben hatten, weil Eva dort Irinas Anwesenheit gespürt hatte. »Ich konkurriere nicht mit einem Geist«, hatte sie gesagt. Ein Tisch hier, ein tragbarer Fernseher da dienten eher als Markierungen, als dass sie einen tatsächlichen Zweck erfüllten. Arkadi hatte alle Besitztümer seines Vaters beseitigt, alles, wodurch der tote Mann hätte präsent bleiben können - mit Ausnahme seiner Bücher und Bilder, die in verschlossenen Kisten in der Kammer neben dem Arbeitszimmer lagerten.
    Von außen war das Gebäude eine Kollision gotischer Pfeiler und maurischer Bögen, aber die Wohnungen waren ziemlich imposant mit ihren hohen Vorkriegsdecken und Parkettböden. Das Haus war für die Elite der Partei und des Militärs gebaut worden, und die Bewohner waren stolz auf diese Adresse gewesen, aber zu Stalins Zeiten waren hier auch die meisten Leute mitten in der Nacht abgeholt worden, und man hatte sie jahrelang oder überhaupt nicht wiedergesehen. Sie hatten mit Grausen auf ein Klopfen an der Tür gelauscht, ja sogar auf das Geräusch des nahenden Aufzugs. Man munkelte, dass es hinter den Wänden spezielle Gänge für die Agenten des Staates gebe. Arkadi fand es interessant, dass niemand

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