Stalins Geist
gewagt hatte, die Ehre des Einzugs in eine dieser Wohnungen abzulehnen, obwohl alle wussten, dass das Haus ein Schafott war.
Der Lastwagen mit ihren sonstigen Besitztümern war seit einer Woche überfällig, und sie hatten sich behelfsmäßig eingerichtet; ihre Basis war eine Matratze, die unmittelbar auf dem Parkettboden lag. Eine Steppdecke war halb vom Bett gerutscht, aber Arkadi und Eva hatten es warm, weil das Gebäude ein Wunder der Heizungstechnik war. Sie hatten den Tag neben einem Tablett voll Brot, Erdbeermarmelade und Tee verschlafen. Die Wind hatte sich gelegt, und der Schnee fiel in dichten Federklumpen, die als Schatten an den Vorhängen herabglitten.
Evas Körper hätte der eines Mädchens sein können; ihre Brüste waren klein, und ihre Haut war so bleich und faltenlos, dass Arkadi halb damit rechnete, seinen Abdruck darauf zu finden. Mit ihrem schwarzen Haar war sie ein perfektes Geschöpf der Abenddämmerung. Wenn sie nachts nicht schlafen konnte, was oft vorkam, wanderte sie barfuß im Bademantel durch die Wohnung. Manche Räume, wie das Arbeitszimmer, benutzten sie überhaupt nicht, außer um die Kartons mit Fotos von seinem Vater und Irina zu lagern, die Arkadi mit dem Auto hergebracht hatte. Nachts knarrte das Parkett; sie schlief lieber tagsüber, wenn weniger Geister unterwegs waren.
Eva brauchte seine Geister nicht; sie hatte ihre eigenen. Sie war als Schulmädchen in Kiew gewesen und bei der Maiparade mitgelaufen, vier Tage nach der Kernschmelze im Reaktor von Tschernobyl, weil die Behörden der Öffentlichkeit versichert hatten, dass alles unter Kontrolle sei. Hunderttausend Kinder waren in einen unsichtbaren Regen aus radioaktivem Plutonium, Kalium, Strontium und Cäsium-I37 marschiert. Niemand in der Parade hatte sich zusammengerollt und war auf der Stelle gestorben, aber sie trug das Etikett einer Überlebenden, und es war allgemein klar, dass Überlebende, vor allem Frauen, sowohl unfruchtbar als auch ansteckend waren.
In Moskau hatte sie eine Anstellung in einer Klinik gefunden. Eva konnte gut mit den jüngeren Patienten umgehen, besonders mit denen, die nicht schlafen konnten. Sie machte Bandaufnahmen mit ihnen und schickte die Bänder an die Eltern. Ihr Porträt, dachte Arkadi oft, hätte man allein in Schwarz und Weiß malen können - in letzter Zeit allerdings auch mehr und mehr nur in Schwarz und mit schärferen Kanten.
Je weiter sie auseinanderdrifteten, desto mehr wurde das Bett zu ihrem gemeinsamen sicheren Hafen. Worte waren ihre Feinde, der Ausdruck gescheiterter Hoffnungen. Sie schliefen schweigend miteinander, und es war schwer zu sagen, wie viel davon aus Leidenschaft geschah und wie viel nur das verzweifelte Anreißen eines abgebrannten Streichholzes war.
Das Telefon klingelte. Weder Arkadi noch Eva wollten Kontakt mit der Realität aufnehmen. Also sprach der Anrufer auf den Anrufbeantworter.
»Wo sind Sie, Renko? Wir haben hier eine Situation, um die wir uns kümmern müssen. Wenn irgendein Verstorbener auf einem Metrobahnsteig erschiene, könnte es sich um einen Jux handeln. Mit Stalin ist es anders. Das Aussehen Stalins anzunehmen, ist eine klare Provokation. Da steckt jemand dahinter. Warum haben Sie Ihr Handy abgeschaltet? Wo zum Teufel sind Sie? Rufen Sie an!«
»Das war Staatsanwalt Surin. Wovon redet er?«, fragte Eva.
»Stalin ist zwei Mal spätnachts in einer Metrostation gesichtet worden.«
»Stalin in der Metro? Wirklich? Und was macht dieser Metro-Stalin? »
»Nicht viel. Er steht auf dem Bahnsteig und winkt den Fahrgästen zu.«
»Und lässt niemanden hinrichten?«
»Nein, niemanden.«
»Was wird Surin unternehmen?« Eva fand Surin die meiste Zeit langweilig, aber jetzt richtete sie sich auf dem Ellenbogen auf.
Arkadi fühlte sich ermutigt. So viel hatten sie schon seit einer Woche nicht mehr miteinander gesprochen.
»Na ja, wie der Staatsanwalt sagt, mit Stalin ist es anders.
Stalin ist ein Minenfeld, und man kann nichts richtig machen. Bezeichnen wir irgendetwas im Zusammenhang mit Stalin als Jux, kriegt Surin es mit den Superpatrioten zu tun. Tun wir nichts und lassen wir zu, dass die Gerüchte sich ausbreiten, hat er einen Wallfahrtsort am Hals. Als die Gebeine des Zaren entdeckt wurden, waren am nächsten Tag die ersten Pilger da. In der Metro wird es zu einem Massenandrang kommen, und Surin geht in die Geschichte ein als der Mann, der die Moskauer U-Bahn lahm gelegt hat. Oder - das wäre Surins dritte Möglichkeit - er akzeptiert die
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