Stalins Geist
Situation und erklärt, dass es sich bei diesen Sichtungen um echte Visionen handelt, und wenn dann nichts weiter passiert, steht er als komplett Wahnsinniger da.«
»Und da hat Surin dich angerufen. Also will er dich als Ersten in das Minenfeld schicken.«
»So ähnlich.«
»Aber du bleibst zu Hause? Ich wusste nicht, dass du den ganzen Tag hier sein würdest.«
»Bin ich aber. Hattest du andere Pläne?«
»Nur, dass du immer an deine Arbeit denkst. Deshalb bist du eigentlich gar nicht hier, auch wenn du hier bist. »
»Nicht immer. »
»Doch, immer. Was ja vermutlich gut ist bei einem Ermittler.
Ich weiß, wenn ein Geist zu uns kommt. Ich spüre seine Anwesenheit. » Das war eine bedeutungsschwangere Äußerung, denn es gab solche und solche Geister. »Ich nehme an, du kannst nicht umhin, dich darauf einzulassen. »
»Eigentlich ist es besser, sich nicht darauf einzulassen.«
»Kannst du es vermeiden?«
»Ich muss es. Ich kann nicht mein Leben lang über die Toten brüten.«
Er schloss die Augen und sah den Mann mit dem Küchenbeil im Nacken vor sich. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine volltrunkene Frau ihrem Mann durch einen einzigen, präzisen Schlag mit dem Beil zwischen die Nackenwirbel das Rückenmark durchtrennte, wie Isakow und Urman behauptet hatten, war astronomisch gering. Die Frau war so betrunken gewesen, dass sie sich wahrscheinlich an nichts mehr erinnern und schon gar kein Geständnis ablegen konnte. Aber das Muster der Blutspritzer an den Küchenwänden schien tatsächlich zu den Flecken auf ihrem Hauskleid zu passen. Der Beilgriff deutete zur linken Schulter des Opfers, was auf einen Angriff mit der rechten Hand schließen ließ, und die Frau war Rechtshänderin. Die Tatsache, dass kein Nachbar wegen des Lärms die Miliz angerufen hatte, ließ vermuten, dass das Ehepaar nicht zum ersten Mal aneinander geraten war. Hatten sie darüber gestritten, wer den Drachen hatte? Genug Schnee, genug Wodka, ein griffbereites Küchenbeil? Bei dieser Kombination brauchte man keinen professionellen Killer.
So oder so - Arkadi ärgerte sich über sich selbst, weil er Isakow und Urman auf sich aufmerksam gemacht hatte. Fragen zu stellen war das Letzte, was er hätte tun sollen, obwohl es aufschlussreich gewesen war, dem Hauptmann und seinem eifrigen Leutnant bei der Arbeit zuzusehen.
»Du tust es schon wieder«, stellte sie fest. »Entschuldige«, sagte er.
»Ich kenne dein Geheimnis.«
»Was ist mein Geheimnis?«
»Trotz allem bis du im Grunde deines Herzens ein Optimist«, sagte sie und korrigierte sich: »Trotz mir bist du ein Optimist. »
»Wir haben unsere Augenblicke.«
»Ich habe den Beweis. Es ist alles auf Tonband.« In der ersten Zeit ihres Zusammenseins hatte Eva mit einem Taschenrekorder auf Kassetten aufgenommen, was sie taten - ob sie Ski gelaufen oder einfach spazieren gegangen waren -, um es später abzuspielen und darüber zu lachen. Wann hatte er sie zum letzten Mal lachen gehört?
Er spürte den Herzschlag in ihrer Brust. Bei ihr war er immer halb erregt. Wenn das kein Grund für Optimismus war, was dann?
Draußen war der Tag verblasst, und die Sonne war ein Feuer im Schnee.
Unten auf der Straße versuchte eine Arbeitskolonne, ein Schlagloch auszubessern. Vier stämmige Frauen gruben, und ein Mann führte die Aufsicht und hielt gelegentlich eine Lampe. Seit einer Woche gossen sie jeden Tag dampfenden Asphalt in ein immer breiteres Loch, eine tägliche Demonstration der Vergeblichkeit.
Das Telefon klingelte. Diesmal sprach Surin mit zuckersüßer Stimme auf den Anrufbeantworter; er entschuldigte sich dafür, dass er Arkadi an seinem freien Tag störte. Hoffentlich benutze Arkadi das Gerät nicht, um seinen Anrufen auszuweichen. »So tief würden Sie nicht sinken.«
Kein Problem, dachte Arkadi und zog den Telefonstecker aus der Wand. Dann fiel ihm Schenja ein, und er schob den Stecker wieder in die Buchse.
Eva sah es. »Du rechnest immer noch damit, dass Schenja anruft?«
»Vielleicht. »
»Er kommt zurecht. Er ist wie ein Fisch im Wasser.«
»Aber es ist kalt draußen.«
»Dann wird er ein warmes Plätzchen finden. Bist du sicher, dass du ihn gesehen hast?«
»Nein, aber ich bin sicher, dass er da war.«
»Hat er etwas zu dir gesagt?«
»Drei Worte: Er ist hier. Dann ist er zur Tür hinausgerannt.«
Niemand wusste, wie viele obdachlose Kinder in Moskau lebten. Die Schätzungen reichten von zehn- bis fünfzigtausend im Alter von vier bis sechzehn Jahren. Nur wenige
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