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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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waren Waisen; die meisten waren aus alkoholkranken, gewalttätigen Familien geflohen. Die Kinder ernährten und kleideten sich mit dem, was sie stehlen oder zusammenbetteln konnten. Sie schliefen auf Heizungsrohren oder in unbewachten Eisenbahnzügen. Sie schnüffelten Klebstoff, schnorrten Zigaretten und verkauften sich für Sex vor dem Bolschoi, und wenn sie eine feste Bleibe hatten, dann war es am ehesten der Platz der Drei Bahnhöfe. In der Woche zuvor war Schenja zusammen mit seinen Freunden Georgi und Fedja aufgegriffen worden. Schenja hatte man zu Arkadi gebracht, aber Georgi und Fedja hatten sie einfach laufen lassen, weil es keinen Platz in einer Unterkunft für sie gab. Der Präsident selbst bezeichnete die Straßenkinder als Gefahr für die nationale Sicherheit. Jetzt, da Georgi eine Waffe besaß, hatte der Präsident vielleicht recht.
    »Arkascha, mach die Augen auf. Dein kleiner Schenja gewinnt beim Schachspielen mehr Geld, als du damit verdienst, dass du dein Leben riskierst. Du glaubst, er ist wie du - eine sanfte, liebenswerte Seele. Aber das ist er nicht.«
    »Er ist zwölf Jahre alt.«
    »Er ist irgendwo zwischen zwölf und hundert. Hast du ihn schon mal Schach spielen sehen?«
    » Tausendmal.«
    »Er umschlingt seinen Gegner wie ein Python, frisst ihn auf und verdaut ihn bei lebendigem Leib.«
    »Er ist gut.«
    »Und du bist nicht für ihn verantwortlich.«
    Arkadi hatte in Betracht gezogen, Schenja zu adoptieren.
    Aber ohne Informationen über die Eltern - man wusste nicht einmal, ob sie tot waren oder noch lebten - kam eine legale Adoption nicht in Frage, und so hatte sich eine andere Regelung entwickelt. Offiziell war Schenja in dem Heim registriert, in dem Arkadi ihn damals kennengelernt hatte. Tatsächlich schlief er in der Wohnung auf dem Sofa, als wäre er zufällig vorbeigekommen und eingenickt. Schenja war wie Pluto: ein dunkles Objekt, wahrnehmbar eher durch seine Wirkung auf die anderen Planeten als durch direkte Beobachtung.
    »Betrachte mich als Python.« Arkadi schlüpfte ins Bett.
    Sie aßen im Bett. Schwarzbrot, Pilze, Gurken, Wurst und Wodka.
    Eva füllte sein Glas. »Gestern Abend in der Klinik hat mich eine Kollegin gefragt: >Weißt du, was der Fluch der russischen Männer ist? Der Wodka! Und was ist der Fluch der russischen Frauen? Die russischen Männer!<«
    »Prost.«
    Sie stießen miteinander an und leerten die Gläser auf einen Zug.
    »Vielleicht bin ich dein Fluch«, sagte Eva. »Wahrscheinlich. »
    »Schenja und ich machen dein Leben kompliziert.«
    »Das hoffe ich. Was glaubst du, was für ein Leben ich hatte?«
    »Nein, du bist ein Heiliger. Das leugne ich nicht.«
    Arkadi spürte eine Veränderung in Evas Stimmung und wechselte das Thema. »Schenja hat gesagt: >Er ist hier.< Und weiter nichts?«
    »Er hat es beim Hinausgehen gesagt.«
    »Er hat nicht gesagt, wo er gewesen ist oder wohin er wollte?«
    »Nein. Er könnte praktisch jeden gesehen haben. Einen berühmten Schachspieler, seinen Lieblingsfußballer. Vielleicht Stalin. Können wir über uns reden?« Eva beugte sich vor und legte den Kopf auf Arkadis Schulter. »Arkascha, ich kann nicht konkurrieren mit einer Frau, die jung und schön und völlig normal gestorben ist. Wer könnte damit konkurrieren?«
    »Sie ist nicht hier.«
    »Aber du wünschst, sie wäre es. Das meine ich. Weißt du, du hast mir nie ein Bild von Irina gezeigt. Ich musste selbst eins finden. Irina war wundervoll. Würdest du sie nicht wiederhaben wollen, wenn du könntest?«
    »Das ist kein Wettbewerb.«
    »Doch, das ist es.«
    Er stellte das Tablett beiseite und zog sie an sich. Ihre Brüste waren empfindlich vom Sex, aber die Warzen wurden wieder steif. Ihr Mund suchte seinen, obwohl bei der Lippen wund und ein bisschen geschwollen waren. Diesmal war der Rhythmus langsam. Jeder Stoß trieb einen sanften Lufthauch aus ihrem Mund, so viel müheloser als Worte. Es konnte ewig so weitergehen, dachte Arkadi, solange sie das Bett nicht verließen.
    Aber sie blieben nicht, wo sie waren. Das Bett war ein fliegender Teppich, der unglücklicherweise in einen Abgrund stürzte.
    »Sag nicht, es geht um Irina. Es wäre gelogen, so zu tun, als ginge es um sie. Ein hoch qualifizierter Ermittler bemerkt Dinge wie seltsame Telefonanrufe und rätselhafte Abwesenheiten.« Na, das ist aufregend, dachte er. Sie waren im Abgrund gelandet, und hier war die Luft dünn, und das Herz schlug gegen die Rippen.
    »Es ist nicht so, wie du glaubst«, sagte Eva. »Jetzt bin

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