Stalins Geist
Erde, fuhr noch tiefer hinunter, und ihr Atem wurde kühler.
Die Tür zum nächsten Wagen öffnete sich, und ein Mann in einem Jogginganzug mit einem Jungen und einem Mädchen in Parkas kam herein. Der Mann hatte breite Schultern und eine wuchtige Stirn, aber seine körperliche Bedrohlichkeit wurde dadurch beeinträchtigt, dass er sich stolpernd von einer Haltestange zur nächsten hangelte, während er den Kindern folgte. Die bei den waren ungefähr zehn Jahre alt, und ihre blauen Augen und goldenen Haare schienen geradewegs aus den Farbtuben eines Malers zu stammen. Das Mädchen hielt einen in Zellophan gewickelten Rosenstrauß im Arm. Selenski nahm sie und den Jungen unter seine Fittiche und führte sie durch den Wagen zu Arkadi.
»Was für ein Zufall. Ich dachte mir, der da drüben sieht doch aus wie Ermittler Renko, und er ist es tatsächlich. Zwei Nächte hintereinander - ist das Zufall oder Schicksal? Was ist es?«
»Bis jetzt nur eine Fahrt in der Metro.«
»Wir kommen ins Fernsehen«, sagte das Mädchen und hielt Arkadi die Blumen entgegen. »Riechen Sie mal.«
»Sehr hübsch. Für wen ist der Strauß?«
»Werden Sie schon sehen«, sagte Selenski. »Okay, Kinder, geht zurück zu Bora. Onkel Wlad hat etwas zu besprechen.« Selenski wiegte sich wie ein Seemann mit den Bewegungen des Zugs, während der Junge und das Mädchen zurückgingen.
»Ist Bora auch Filmemacher?«, fragte Arkadi. »Bora ist zum Schutz da.«
»Dann müssen Sie Schutz aber dringend nötig haben.«
»Unterschätzen Sie Bora nicht. Bora ist ein Pitbull. Aber was machen Sie hier?« Selenski grinste ratlos. »Im Fernsehen hieß es, es gebe keine Ermittlungen, und niemand habe Stalin gesehen. Haben Sie es sich anders überlegt?«
»Ich habe noch mal nachgedacht. Vielleicht besteht die Chance, dass Stalin fünfzig Jahre Winterschlaf gehalten hat.« Selenski bemerkte, dass Platonow sich für die Unterhaltung interessierte. »Neugierig?«
»Nein.« Platonow schüttelte heftig den Kopf.
»Fährt Bora zum ersten Mal mit der Metro?«, fragte Arkadi. »Er sieht ein bisschen verloren aus.«
»Er ist neu in Moskau, aber er wird sich schon zurechtfinden. Es ist nützlich, ihn in der Nähe zu haben.«
»Zum Lösen von Kreuzworträtseln?«
»Die Dinge ändern sich. Ich hatte eine schlechte Phase, doch die geht allmählich zu Ende. Ich gebe zu, ich habe ein paar Filme für Erwachsene gedreht. In Ihren Augen macht mich das vielleicht zum Pornographen.«
»Tut es, ja.«
»Weil Sie sich auf mich konzentrieren. Was ist wichtig, der
Bote oder die Botschaft?«
»Wie lautet die Botschaft?«
»Sie haben keine Ahnung, worauf Sie sich einlassen.«
»Wird es special effects geben?«
»Wir brauchen keine special effects. Wir kennen das Geheimnis.«
»Weihen Sie mich ein.«
»Sie werden sehen, was Sie sehen werden.«
Selen skis Lächeln blieb in der Luft hängen, als er zu seinem Platz zurückkehrte. Der Zug verlangsamte seine Fahrt, und die Fahrgäste auf der linken Seite wechselten über den Gang zur rechten. Statt der üblichen U-Bahnapathie legten sie eine wachsende Aufregung an den Tag, als wären sie im Theater, kurz bevor der Vorhang aufging.
Platonow räusperte sich. »Renko, ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich Sie gerade nicht unterstützt habe.«
»Schon gut. Sie sind Schachspiel er, kein Polizist.«
Es wurde schwarz im Zug, und dann ging die gelbe Notbeleuchtung an.
»Stalin!«
»Er ist es.«
»Stalin! »
Die volle Beleuchtung strahlte wieder auf, als die Türen sich öffneten. Arkadi sah nur einen leeren Bahnsteig und Marmorsäulen. Platonow erhob sich, angezogen von der offenen Tür. Der Geiger hatte anstelle des Buches eine kleine Videokamera in der Hand und filmte die Szene. Arkadi erkannte die Kamera, denn im Büro des Staatsanwalts gab es eine ähnliche.
Er folgte Platonow auf den Bahnsteig. »Haben Sie etwas gesehen?«
»Ich … weiß es nicht«, sagte Platonow.
Alle stiegen nacheinander aus, und die Menge wuchs, als die Neugier auch Fahrgäste aus den vorderen Wagen herauslockte, manche mit wodkaschwerem Schritt und Flaschen in den Innentaschen des Mantels. Wo gerade noch fünfzehn Leute gewesen waren, wimmelten jetzt fünfzig durcheinander. Die Türen schlossen sich, und der Zug fuhr ab. Die Kleineren unter den Leuten auf dem Bahnsteig standen vor Aufregung auf den Zehenspitzen. Arkadi sah niemanden, der etwas trug, das groß genug war, um damit special effects zu produzieren - ein Stroboskop und die nötigen
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