Stalins Geist
Krapotkinskaja deutete er auf die gewaltigen Kronleuchter. Der Bahnhof war nach Fürst Krapotkin benannt, einem Anarchisten, und Arkadi vermutete, dass es dem Fürsten beim Anblick dieser Kronleuchter in den Fingern gejuckt hätte, eine Granate zu werfen. Sechs ältere Leute stiegen ein, darunter die beiden alten Rentner Antipenko und Mendelejew. Arkadi fragte sich, wie groß die Wahrscheinlichkeit sein mochte, dass drei Fahrgäste im selben Wagen fuhren wie in der Nacht zuvor. Aber warum nicht, wenn sie einen regelmäßigen Tagesablauf hatten?
Selenski hörte mit geschlossenen Augen seine Musik, und ein gelegentliches Kopfnicken ließ ihren Rhythmus erkennen. Das musste man ihm lassen, dachte Arkadi - iPods waren die am häufigsten gestohlenen Gegenstände in der Metro, aber der Filmemacher zeigte eine unbekümmerte Sorglosigkeit. Mendelejew und Antipenko warfen Arkadi verstohlene Blicke zu; ihre Augen funkelten erbittert. In ihrer Jugend hatten sie den Höhepunkt sowjetischer Macht und Ansehens erlebt. Kein Wunder, dass sie wehmütig und wütend darüber waren, wie weit es mit ihrem Leben bergab gegangen war.
In der Station Lenin-Bibliothek stieg der Offizier der Grenzgarde aus und übergab sich in seine Mütze. Die Bahnsteigaufseherin, eine stämmige Frau in der Uniform der Metro, achtete darauf, dass er mit keinem Tropfen ihr Revier besudelte. Acht Personen stiegen ein - Intellektuelle, nach ihren dünnen Mänteln zu urteilen. Einer ordnete die quer über seine Glatze gekämmten Haarsträhnen und grüßte Platonow mit einem flüchtigen Nicken.
Platonow sprach lauter, um das Tosen des Zuges zu übertönen. »Ein sogenannter Schachmeister, aber in Wirklichkeit nur ein Figurenschubser. In Oslo, 1978, hat er gegen mich nach elf Zügen aufgegeben. Elf! Als hätte er plötzlich Verdauungsstörungen. In Wirklichkeit hatte ich ihm einen Läufer in den Hals und einen Turm in den Arsch gerammt.«
»Machen Sie sich viele Feinde?«
»Schach ist Krieg. Schenja weiß das.« Platonow plusterte sich ein bisschen auf. »Am Freitag spiele ich gegen den Sieger eines Lokalturniers. Der Hochstapler da drüben tut so, als würde er auch da sein. Aber er wird sich nicht blicken lassen.«
In der Station Ochotny Rjad stiegen die beiden Babuschkas aus der Nacht zuvor in den Wagen. Der Geruch von gekochtem Kohl, den sie mitbrachten, wetteiferte mit Platonows Eau de Cologne. Die Prostituierten flirteten kurz mit Arkadi, aber dann kamen sie zu dem Schluss, er sei ein kalter Motor. Drei von ihnen steckten im Todesgriff enger, feuchter italienischer Röcke. Die vierte, anscheinend die Anführerin, eine Rothaarige in einer Schlangenlederhose, sah aus, als lauschte sie ohne die Hilfe eines iPods ihrer ganz privaten Musik. Die anderen schrien auf, wenn die Lichter flackerten und Funken zwischen Zug und Tunnel an den Fenstern vorbeistoben. Dies war der älteste Streckenabschnitt des gesamten Systems. Die Gleise waren abgenutzt, die Isolierungen verschlissen. Bläuliche Kobolde tanzten um die Weichen herum.
Platonow sagte: »Wissen Sie, was das Traurige ist?«
»Was ist das Traurige?«
»Dass Stalin die Metro nur ein einziges Mal als Fahrgast genießen konnte. In der Öffentlichkeit war er so beliebt, dass er bei dieser Gelegenheit von der Menge überrannt wurde. Die Sicherheitskräfte haben es ihm nie wieder erlaubt. Wenn man denkt, dass wir hier fahren, wo er gefahren ist.«
Der Zug näherte sich dem Bahnhof bei der Lubjanka, der legendären Fabrik des Leids, in der Menschen zu nützlicheren Formen gehämmert worden waren, als wären sie Metall: Kollaborateure, Geständige, Opfer, die sich eifrig selbst beschuldigten. Hergebracht wurden sie mit dem Auto oder - zu Stalins Zeiten - in dem unschuldig aussehenden Lieferwagen einer Bäckerei, aber niemals mit der Metro.
Die nächste Station war Tschistyje Prudi. Trotz seiner Skepsis zog Platonow die Mütze vom Kopf und nahm weitere kleine Korrekturen vor, um präsentabel zu erscheinen, und Arkadi bemerkte, dass unter den Mitfahrenden eine allgemeine Unruhe aufkam: Man hüstelte, drückte den Rücken durch, beschäftigte sich mit seinen Schuhen. Medaillen wurden plötzlich sichtbar. Antipenko trug den Goldenen Stern eines Helden der Arbeit. Die Babuschkas entpuppten sich als Heldenmütter. Selenski zog die Ohrstöpsel heraus und ließ sie um den Hals baumeln. Der Geiger knickte die Ecke der Seite um, klappte sein Buch zu und schob es in den Geigenkoffer. Die Bahn, siebzig Meter unter der
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