Stalins Geist
Batterien zum Beispiel. Er sah auch niemanden von der Bahnsteigaufsicht, obwohl sonst immer darauf geachtet wurde, dass niemand hier herumlungerte, wenn der letzte Zug abgefahren war. Bei jeder Metrostation war auf der Straße ein Milizposten, aber Arkadi hatte nicht das Gefühl, dass er jetzt Zeit hatte, die Rolltreppe hinaufzufahren, den Dienst habenden Polizisten zu wecken und ihm zu erzählen, dass… was?
»Was heißt das, Sie wissen es nicht?«, fragte er Platonow. »Ich … weiß es nicht.«
Arkadi wandte sich an eine Babuschka, die so gütig aussah wie die Mutter der Heiligen Jungfrau, und fragte sie, ob sie etwas gesehen habe.
»Ich habe Stalin gesehen, klar wie am helllichten Tag. Er hat mich gebeten, ihm eine Schale heiße Suppe zu bringen.«
Zwei Männer in Pelzmützen und Parkas hielten sich im Hintergrund. Sie waren nicht im Zug gewesen und auch nicht unterwegs zugestiegen. Russen waren es nicht. Im Winter zogen Russen einfach eine weitere Schicht Kleider über, dachte Arkadi. Das waren ganz sicher Amerikaner; sie trugen Parkas, so rund und bunt wie Heißluftballone.
»Freunde, Russen, Landsleute, Brüder und Schwestern«, sagte Selenski. »Bitte macht uns Platz.« Mit einer Handbewegung deutete er an, wie viel Platz er auf dem Bahnsteig benötigte und wo sein Kameramann stehen sollte. Er spielte die Rolle eines Regisseurs, der alles im Griff hatte, und er bewegte sich langsam, um den Augenblick noch eindringlicher zu gestalten. Aus seiner Sporttasche holte er ein gerahmtes Foto von Stalin und lehnte es an den Sockel einer Säule auf dem Bahnsteig. Bora nahm den beiden Kindern ihre Parkas ab, damit man ihre bestickten Bauernblusen sehen konnte. Selenski wühlte wieder in seiner Tasche und holte eine spitz zulaufende Votivkerze und einen Kerzenhalter heraus. Beides legte er dem Jungen in die Hände. Bora zündete die Kerze an, und Selenski schaute zu den Männern in den Parkas hinüber. Der Kleinere der bei den machte eine pantomimische Gebärde, als hielte er etwas in der Hand. Selenski ordnete den Blumenstrauß in den Händen des Mädchens. Der Kameramann filmte weiter. Von der Fleischbeschau bis zu Stalins Geist war für Selenski alles gleich, dachte Arkadi, aber Selenski führte gar nicht Regie; er nahm seine Anweisungen von dem Amerikaner entgegen. Die Kinder gingen in einer kurzen Prozession zu dem Foto und stellten Kerze und Blumen davor ab. Auf dem Bild trug Stalin eine weiße Uniform. Sein kraftvoller Schnurrbart und das dichte Haar waren unverwechselbar, und die flackernde Kerzenflamme erweckte sein Gesicht zum Leben.
Mit singenden Stimmen zwitscherten die Kinder: »Lieber Genosse Stalin, wir danken Ihnen, dass Sie die Sowjetunion zu einer mächtigen Nation gemacht haben, geachtet von der ganzen Welt. Wir danken Ihnen, dass Sie die faschistischen Invasoren und die imperialistische Invasion besiegt haben. Wir danken Ihnen, dass Sie die Welt zu einem sicheren Ort für Ihre Kinder gemacht haben. Wir werden es nie vergessen.«
Der Amerikaner streckte den Zeigefinger aus, und Selenski winkte die Frau des Astrachan-Mannes näher an das Foto. Sie tupfte sich mit ihrem Schal die Tränen ab.
»Was hast du gesehen, Großmutter?«, fragte Selenski sie. »Ein Wunder. Bei der Einfahrt in den Bahnhof haben mein Mann und ich unseren geliebten Stalin gesehen, umgeben von strahlendem Licht.«
Andere Stimmen meldeten sich: Sie hätten Stalin ebenfalls gesehen. Es war ansteckend, auch wenn die Versionen unterschiedlich waren.
»Er saß am Schreibtisch und schrieb!«
»Er studierte Kriegspläne! »
»Er las Tolstoi!«
»Puschkin!«, widersprach jemand. »Marx!«
Der Amerikaner machte eine kreiselnde Bewegung mit dem Finger. Schneller.
Selenski wandte sich an die Kamera. »Wir Patrioten erklären diese Metrostation zu einer heiligen Stätte. Wir fordern ein Denkmal für das militärische Genie, das von dieser Stelle aus das Vaterland siegreich verteidigte. Wie kann eine russische Regierung uns das verweigern? Wo bleibt der russische Stolz?«
Der Amerikaner hob beide Hände.
Selenski hielt ein weißes T-Shirt hoch, auf dem in roten Lettern stand: »Ich bin ein Russischer Patriot.« Bora wanderte zwischen den Leuten umher und verteilte ähnliche Hemden. Eine interessante Versammlung, dachte Arkadi: alte Leute und solche, die von milder Neugier erfasst waren, Volltrunkene, vier frierende Prostituierte und amerikanische Marionettenspieler.
»>Ich bin ein russischer Patriot<«, las Selenski laut vor.
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