Stalins Geist
»Wenn du kein russischer Patriot bist, was bist du dann?«
Die Rentner Mendelejew und Antipenko nahmen jeder ein Hemd entgegen. Der Amerikaner winkte, und die Kamera schwenkte auf die fotogene Marfa Burdenowa. Bis jetzt war die Schülerin in der Menge verborgen gewesen wie eine Taube auf einem Ast. Wie sie an Selenskis Lippen hing, sah es aus, als würde sie auch heute ihre Ausgehzeit überschreiten. Arkadi war plötzlich wütend auf den Filmemacher, auf die bereitwilligen Gläubigen und den provisorischen Altar, denn in Moskau reichte dergleichen aus, um die Vergangenheit heraufzubeschwören. Das Video würde vielleicht umso wirkungsvoller sein, weil es so holprig inszeniert und schlecht ausgeleuchtet war - ein Dokumentarfilm, der Stoff für Gerüchte lieferte. Und das alles inszeniert von Amerikanern. Arkadi fragte sich, was Stalin wohl tun würde.
Selenski sah, dass Arkadi auf ihn zukam, und beeilte sich mit seinem Vortrag.
»Russische Patrioten halten die Vergangenheit in Ehren.
Wir werden zurückkehren zu der visionären und humanitären … »
Arkadi ging an Selenski vorbei und beförderte die Kerze samt Ständer mit einem Fußtritt auf die Gleise. Dann trat er einen Schritt zurück und tat das Gleiche mit dem Blumenstrauß.
»Sind Sie verrückt geworden?«, fragte Selenski.
Arkadi hielt seinen Dienstausweis hoch, sodass alle ihn sehen konnten, und verkündete: »Das Filmen in der Metro ist verboten. Außerdem verhindert diese Versammlung die planmäßige Reinigung und Wartung der Metro und gefährdet somit die öffentliche Sicherheit. Sie ist beendet. Gehen Sie nach Hause.«
»Ich sehe keine Putzfrauen und keine Wartungstechniker«, sagte Selenski.
»Plan ist Plan.« Arkadi hob das Stalin-Foto auf.
»Nein!«, protestierten ein Dutzend Stimmen.
»Wir machen einen Tausch.« Arkadi drückte dem Kameramann das Foto in die freie Hand und nahm ihm die Kamera aus der anderen. Er warf die Minikassette aus und steckte sie in die Manteltasche.
»Das ist mein Eigentum«, sagte Selenski.
»Jetzt ist es Beweismaterial. » Arkadi gab die Kamera zurück. Er drängte sich zwischen den Leuten hindurch, packte Marfa Burdenowa beim Handgelenk und ging mit ihr zur Rolltreppe. Sie schrie. Platonow tappte neben ihnen her. Alle waren unsicher stehen geblieben, nur die beiden Amerikaner nicht: Sie waren verschwunden.
Vor ihnen stellte Bora die Sporttasche auf den Boden. Jetzt, da er nicht mehr auf dem schwankenden Deck eines fahrenden U-Bahnwagens stand, war er sicherer auf den Beinen. Arkadi ging geradewegs auf ihn zu.
» Wir drehen morgen einfach noch mal«, schrie Selenski ihm nach. »Wir brauchen es nicht mal in Tschistyje Prudi zu machen. Wir sagen einfach, es ist Tschistyje Prudi.«
»Jeder Bahnhof sieht anders aus«, schrie Platonow zurück.
»Die Leute werden es merken.«
»Bitte helfen Sie mir nicht«, sagte Arkadi. Bora wartete auf ein Zeichen von Selenski.
»Loslassen, du Arsch!« Marfa Burdenowa versuchte, Arkadi zu schlagen, aber er schleif te sie so schnell hinter sich her, dass sie ihn nicht richtig traf.
Bora trat widerstrebend zur Seite. Als sie auf der Rolltreppe waren, blieb Arkadi nicht stehen.
Marfa schrie quiekend um Hilfe.
»Oben lasse ich dich laufen«, sagte Arkadi. »Ich weiß, du wirst zu ihm zurück rennen, aber er wird da unten nicht auf dich warten, das solltest du wissen. Er will nur die Kassette.« Als sie oben angekommen waren, ließ er ihr Handgelenk los, und wie er es vorausgesagt hatte, galoppierte das Mädchen zu der abwärts fahrenden Rolltreppe hinüber. Bora und der Kameramann waren bereits auf dem Weg nach oben; sie stürmten die Rolltreppe herauf, immer zwei Stufen auf einmal.
Die Nacht funkelte. Platonow wollte ein Taxi suchen, aber Arkadi nahm Kurs auf den Park hinter dem Bahnhof.
»Renko, dort werden wir kein Taxi finden. Das ist doch wohl klar.«
»Dann ist es Selenski ebenfalls klar. Er wird hier zuletzt suchen.«
»Sollten wir das nicht besprechen?«, fragte Platonow. »Nein.«
»Ich dachte, Sie sollen mein Leben schützen und nicht in Gefahr bringen.«
»Wenn niemand uns sieht, passiert auch nichts.«
Der Park war eine freie Fläche von der Größe eines Fußballplatzes, zur Mitte hin leicht abschüssig, und die weiße Schneedecke war gesäumt von schemenhaften Platanen und einem schmiedeeisernen Zaun. Der Schnee reflektierte das Licht der Boulevards zu beiden Seiten, aber im Park selbst gab es weder Wege noch Laternen, und obwohl sie Seite an Seite
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