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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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unserer eigenen Einheit zu vertrauen. In zehn Monaten unter solchen Bedingungen hat Borodin niemals versäumt, einen Befehl auszuführen. Mehr kann ich von einem Mann nicht verlangen.«
    Borodin nahm das größte Lob seines Lebens aufrecht entgegen und knöpfte sich den Hemdkragen auf. Unter seinem Halsansatz sah man den eintätowierten OMON-Schild. Arkadi spürte das trockene Schlucken der Veteranen, und er sah, wie sie sich vorbeugten, um sich kein Wort entgehen zu lassen.
    »Er war bei der berühmten Schlacht an der Sunscha-Brücke dabei?«
    »Eher ein Scharmützel, würde ich sagen, aber - ja, er war dabei.«
    »Mehr als ein Scharmützel, da bin ich sicher. Könnten Sie dem Richter und den Geschworenen noch einmal schildern, was an jenem Tag passierte?«
    »Wir hatten an diesem Tag den Auftrag, den Verkehr an der Brücke zu regeln und zu kontrollieren. Mit einem Großangriff wurde nicht gerechnet, und als wir von dem terroristischen Überfall auf das OMON-Lazarett erfuhren, war es zu spät, um noch Verstärkung anzufordern.«
    »Aber Sie hielten die Stellung.«
    »Wir hatten unsere Befehle.«
    »Sergeant Borodin hielt die Stellung.«
    »Ja.«
    »Gegen eine Übermacht von acht zu eins.«
    »Ja.«
    »Fand während dieses Gefechts eine Kommunikation zwischen den Terroristen und Ihren Männern statt? Ich meine keinen Funkkontakt, sondern Rufe und Beleidigungen?«
    »Nicht von unserer Seite. Wir waren zu wenige, und wir wollten unsere Positionen nicht verraten. Aber die Tschetschenen haben eine ganze Reihe von Beleidigungen herübergerufen.«
    »Zum Beispiel?«
    »>Russen, ihr habt einen weiten Weg gemacht, um zu sterben!< >Iwan, wer besucht deine Frau?< Sie sagten allerdings nicht >besucht<. >Die Hunde werden eure Knochen fressen.< Solche Dinge.«
    »Noch einmal- wie viele Terroristen waren es?«
    »Ungefähr fünfzig.«
    »Und wie viele in Ihrer Einheit?«
    »Sechs, mich eingeschlossen.«
    »Und Borodin eingeschlossen?«
    »Natürlich, auch Borodin.«
    »Unter feindlichem Feuer, in der Minderzahl, im Kugelhagel hörte Igor Borodin die Worte: >Die Hunde werden eure Knochen fressen. < Ist das richtig?«
    » Jawohl.«
    »Ich beziehe mich auf das Protokoll der Aussage der Nachbarn Borodins, die eine hitzige Auseinandersetzung hörten, in deren Verlauf Machmud Saidow rief: >Die Hunde sollen deine Knochen fressen!< Daraufhin geriet Borodin außer sich. Er war wieder Sergeant Borodin am Ufer der Sunscha und beschützte sein Land.«
    Die Frau im schwarzen Schal sah Arkadi mit ihren dunklen Augen an und flüsterte: »Und dann hat er die Pizza gegessen.«
    Mittagspause.
     
    Ginsberg war eine kleine, eckige Gestalt in schwarzem Mantel und mit schwarzer Mütze. Sein riesiger Kopf ging dem Rest des Körpers voraus. Arkadi folgte ihm aus dem Gerichtsgebäude und einem von in Jute gewickelten Setzlingen gesäumten, holprigen Pfad hinunter zu einem Eiswagen, der auf dem Gehweg stand. Aus der Nähe sah man, dass Bart und Augenbrauen des Reporters grau und zerzaust waren. Sein Blick war leicht verwirrt, und Arkadi erkannte, dass der Mann betrunken war. Am Mittag. Arkadi kaufte eine Schokoladeneiswaffel, Ginsberg nahm ein Orangeneis am Stiel und rauchte eine Zigarette. Sie aßen, von Schneeflocken umwirbelt - wie zwei Eskimos, dachte Arkadi.
    »Ich brauche nichts als frische Luft, Nikotin, Zucker und künstliche Farbstoffe«, sagte Ginsberg. »Ein Cappuccino würde auch nicht schaden. Obwohl es wichtig ist, Milchschaum und künstliche Farbstoffe vom Bart fernzuhalten, damit man nicht allzu komisch aussieht. Was wollen Sie, Ermittler Renko?«
    »Eine kleine Information.«
    »Kleine Informationen sind gefährlich.« Ginsberg rutschte vom Randstein ab und wäre hingefallen, wenn Arkadi ihn nicht beim Ärmel festgehalten hätte.
    »Sie haben einen Artikel für die Iswestija über das Gefecht geschrieben, das Nikolai Isakow zum Nationalhelden gemacht hat.« Arkadi schaute Ginsberg in die Augen und sah Intelligenz, die sich an die Oberfläche mühte.
    »Ja.«
    »Sie haben ihn interviewt?«
    »Ich habe seine Einheit während seines zweiten Diensteinsatzes einen Monat lang begleitet. Ich war als einziger Journalist dabei. Er sagte, Journalisten von normaler Körpergröße bräuchten zu viel Platz.«
    »Sie haben sich angefreundet?«
    »Russen zeigen für gewöhnlich zwei verlässliche Reaktionen: Sie schlagen einen Juden und lachen über einen Buckligen. Das macht mich doppelt verwundbar. Isakow war frei von all dem.«
    »Also waren Sie

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