Stalins Geist
Sunscha auf und ab, und die Gegner beschießen sich über den Fluss hinweg, bis die Tschetschenen einen schmählichen Rückzug antreten. Endresultat: Vierzehn Rebellen von unseren Scharfschützen getötet, und nur einer unserer Männer hat mehr als eine Schramme. Nach der zweiten Version wurden von den vierzehn toten Rebellen acht aus nächster Nähe in die Brust oder in den Kopf geschossen, zwei in den Rücken, und zwei haben noch Essen im Mund. Und keine einzige Kugel verschwendet. Unglaubliche Scharfschützenkunst. Keine Schussverletzungen an Armen oder Beinen, die nicht tödlich
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wären. Mit anderen Worten: Nach der zweiten Version war das, was an der Brücke über die Sunscha passierte, kein Gefecht, sondern die Hinrichtung der Tschetschenen, die sich an diesem Tag zufällig in Isakows Camp aufhielten. Es war ein Racheakt. Es war ein Schlachtfest. »
»Waren diese Tschetschenen bewaffnet?«
»Ohne Zweifel. Das sind Tschetschenen meistens. Und wenn sie es nicht waren - Isakows Einheit hatte wochenlang Häuser durchsucht und Waffen konfisziert. Sie hatten genug davon, um die Toten damit zu garnieren.«
»Gab es überlebende Zeugen?«
»Nein. Ich kam ein paar Minuten nach den Morden mit dem Hubschrauber an, weil ich Isakows Einheit wieder begleiten sollte. Ich hatte eine persönliche Einladung von Isakow. Beim Anflug sah ich, wie Marat Urman Borodin und die andern dirigierte; sie rannten um einen Lastwagen herum. Die Hälfte der Tschetschenen saß an einem Lagerfeuer. Als wir zur Landung ansetzten, winkte Marat uns weg. Sie sagten mir vom Boden aus ab. Keine Interviews, kein Aufenthalt bei der Einheit. Es war eine komplette Kehrtwendung. Plötzlich brauchte sogar ich zu viel Platz.«
»Was ist mit dem Rest der Einheit? An der Brücke waren sechs Schwarze Barette. Isakow, Urman und Borodin sind drei. Wer waren die anderen drei?«
»Das weiß ich nicht. Sie waren neu für mich. Da wurden
immer Männer ein- und ausgewechselt.«
»Waren sie heute da?«
»Nein, aber ich habe ihre Namen in meinen Notizen.«
»Sie haben die Notizen aufbewahrt?«
»Ein Reporter bewahrt seine Notizen immer auf.«
»Haben Sie je von Todesschwadronen in Tschetschenien gehört?«
Ginsberg musste lachen. »In Tschetschenien gab es nichts als Todesschwadronen. So schlugen die Soldaten sich durch.«
»Russische Truppen haben sich mieten lassen?«
»Wenn nötig. Aber im Zusammenhang mit diesem Blutbad wird es niemals zu einer Anklage kommen. Wir sind die Sieger, und wir waschen unsere schmutzige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit. Wenn Sie es auf einen Helden wie Isakow abgesehen haben, sollten Sie schnell handeln, denn wenn er diese Senatswahl gewinnt, ist er immun. Wenn Sie ihn dann verhaften wollten, müssten Sie ihn schon bei einer Leiche finden, ein Messer in der Hand und eine Blutlache zu seinen Füßen.«
Arkadi fragte so gleichmütig wie möglich: »Können Sie sich erinnern, ob Sie bei Ihrem Aufenthalt in Tschetschenien von einer Ärztin namens Dr. Eva Kaska gehört haben?«
»Nein, aber da war eine Ärztin auf der falschen Seite.«
»Wie meinen Sie das?«
»Auf der tschetschenischen Seite. Ihren Namen habe ich nie erfahren. Sie hat keine Waffen getragen, arbeitete jedoch in einem Krankenhaus in Grosny. Es hieß, sie sei dort auf einem Motorrad aufgetaucht. Können Sie sich das vorstellen? Wir hatten die Stadt unter Granatenbeschuss, und viel war von einem Krankenhaus nicht mehr übrig, aber angeblich hat sie Rebellen und Russen gleichermaßen behandelt. Und dann ist sie verschwunden. OMON hat sie gesucht, aber nie gefunden. Vielleicht gab es sie nur in der Fantasie.«
Die Versammlung der Schwarzen Barette in der Eingangshalle löste sich auf; sie kehrten in den Gerichtssaal zurück. Isakow und Urman waren verschwunden. Arkadi musste sich beeilen, um Platonow abzuholen, und er stand hier draußen im Schnee mit einem kleinwüchsigen, buckligen Betrunkenen.
»Ich habe vom Hubschrauber aus Bilder gemacht. Nur zwei«, sagte Ginsberg.
»Kann ich sie sehen?«
»Warum nicht? Majakowski-Platz, um elf. Ist Ihnen das recht?« Er nahm Arkadis Visitenkarte, ließ sie fallen und fischte sie unbeholfen aus dem Schnee. »Was meinen Sie? Glauben Sie, der Pizzabote war ein Terrorist? Ich hoffe es, denn ich habe ihn getötet, indem ich Isakow oder Marat oder Borodin nicht angezeigt habe.« Mit leerem Blick starrte er auf einen Haufen Setzlinge. Es war offensichtlich, dass sie einfach von einem Lastwagen geworfen worden
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