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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Anzug spannte sich zum Zerreißen, und er war schlecht rasiert. Das dünne Licht der Wintersonne schien auf das Emblem des Doppeladlers über dem Richtertisch und sickerte herab auf die Geschworenenbank, die Tische der Anwälte und das Publikum hinter der hölzernen Balustrade. Die vorherrschenden Farben im Raum waren die Pastell- und Holztöne einer schwedischen Küche, und der Geruch nach Sägemehl und Putz erinnerte daran, dass ein großer Teil des Gerichtsgebäudes noch nicht fertiggestellt war. Arkadi begab sich auf Zehenspitzen zum letzten freien Platz neben einer olivhäutigen Frau in schwarzem Schal und Kleid. In der Reihe hinter ihm machte sich ein kleiner Mann mit grau meliertem Bart Notizen. Die Hälfte des Zuhörerraums war besetzt von Männern in den blau-schwarzen Tarnanzügen der Schwarzen Barette, hartgesottenen Typen, denen die Ungeduld mit dem juristischen Prozedere am Gesicht anzusehen war. Einem fehlte ein Arm, ein anderer hatte eine violett glänzende Brandnarbe im Gesicht, und manche hatten den ausgehöhlten Blick von Kriegsveteranen. Der Saal war überheizt, und die meisten Leute hatten ihre Mäntel auf dem Schoß. Einer der Schwarzen Barette hatte sein Hemd so weit aufgeknöpft, dass man die Tätowierung des OMON-Tigers auf seiner Brust sehen konnte. Nikolai Isakow und Marat Urman saßen auf Ehrenplätzen in der ersten Reihe. Isakow zeigte keine Reaktion, als er Arkadi hereinkommen sah, aber Arkadi hatte den Eindruck, dass ihn durchdringende blaue Augen hinter einer Maske beobachteten. Als Urman ihn sah, schüttelte er den Kopf.
    Es war der zweite Tag des Beweisvortrags. Die Fakten waren die, dass Machmud Saidow - siebenundzwanzig Jahre alt, verheiratet, ein Kind - eine Pizza in die Wohnung des Angeklagten Borodin - dreiunddreißig, Maler und Anstreicher, geschieden - geliefert hatte. Saidow erwartete ein Trinkgeld und sah sich enttäuscht. Während er auf den Aufzug wartete, fragte er sich laut, wann die Russen endlich lernen würden, dass Pizzaboten überall auf der Welt auf Trinkgelder angewiesen seien. Borodin kam wieder zur Tür. Es folgte ein Wortwechsel, Borodin verschwand zum zweiten Mal in seiner Wohnung, kam mit seiner Dienstpistole zurück und verpasste Saidow einen tödlichen Kopfschuss.
    Die Verteidigung brachte vor, Saidow habe Borodin, einen Kriegsveteranen, der an posttraumatischem Stress leide, beleidigt. Beleidigungen seien zwar keine hinreichende Entschuldigung für einen Mord, aber sie hätten bei Borodin eine Reaktion ausgelöst, die er nicht unter Kontrolle gehabt habe. Dem psychiatrischen Gutachten zufolge habe Borodin sich tatsächlich in einer Notwehrsituation gewähnt, als er geschossen habe. Er habe keinen Pizzaboten vor sich gesehen, sondern einen Terroristen, der gestoppt werden musste.
    »Aber er war kein Terrorist«, flüsterte die Frau neben Arkadi. »Mein Machmud war kein Terrorist.«
    Borodin zog sein Jackett aus. Er lauschte hingerissen, als hörte er eine Geschichte, die ihm neu war. Seine alten Kameraden im Zuschauerraum hielten ihm emporgestreckte Daumen entgegen, und die Bürger auf der Geschworenenbank waren fasziniert. Geschworene waren Teil einer Justizreform, die auf Drängen des Westens betrieben worden war. Früher waren Verteidiger stets Bittsteller, Richter allmächtig und Staatsanwälte die Regisseure der Show gewesen. Aber die Show hatte jetzt ein neues Publikum.
    Borodins Anwalt rief Isakow in den Zeugenstand; er schilderte die ruhmreiche Vergangenheit des Kriminalbeamten als Hauptmann bei den Schwarzen Baretten und erkundigte sich nach Borodins Leistungen. Isakows Antwort war nicht unbedingt präzise, aber wirkungsvoll.
    »Ich war zehn Monate lang Sergeant Borodins Vorgesetzter.
    In dieser Zeit war OMON die Speerspitze der russischen Streitkräfte in Tschetschenien, und das bedeutete ständige Auseinandersetzung mit Rebellen. Manchmal bei nur vier Stunden Schlaf innerhalb von zwei Tagen, manchmal so weit voraus vor jeder logistischen Unterstützung, dass wir tagelang nichts zu essen hatten, während wir gegen einen Feind kämpften, der sich in der Bevölkerung verbarg und sich nicht an das Kriegsrecht hielt. Dieser Feind konnte ein abgehärteter Soldat sein, ein religiöser Fanatiker oder eine Frau, die eine Bombe im Kinderwagen transportierte. Wir suchten Freunde, wo wir sie finden konnten, und bemühten uns um ein vertrauensvolles Kommunikationsverhältnis zu den Dorfältesten. Aber die Erfahrung lehrte uns, niemandem außer den Männern in

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