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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Vorhängen, andere moderten in schamloser Öffentlichkeit in ihren nachlässigen Krankenhaus-Einheitshemden. Ohne Wodka und Zigaretten hatte das Leben seinen Sinn verloren. Die letzte Freude, der letzte Trost war ihnen genommen, und mit fast grimmiger Entschlossenheit moderten sie vor sich hin und überlegten sich, wie sie den Schwestern das Leben schwer machen könnten. Die Schwestern ihrerseits drehten den Ton des Fernsehers unter der Decke zu einem unverständlichen Gemurmel herunter und ließen das Radio im Stations zimmer mit voller Lautstärke laufen. Spazieren gehen war nur in einem zentralen Korridor erlaubt, der zu anderen Stationen führte. Dort stolperten die Patienten auf und ab und schoben ihre Infusionsständer vor sich her. Arkadi hörte das Quietschen einer Krankenliege, die vor der Tür vorbeigeschoben wurde. Elena Iljitschnina hatte ihn gewarnt: Reizbarkeit sei ein Nebeneffekt seiner Medikamente. Wie sollte man auch nicht reizbar sein, nachdem man eine Kugel in den Kopf bekommen hatte?
    Aber da steckte mehr dahinter. Das Gehirn war das Weltall, Milliarden Galaxien, Poesie, Leidenschaft, Erinnerung, Fantasie. Die ganze Welt und mehr wohnte darin. Und dann kam eine Chirurgin mit guten Absichten und bohrte den Schädel auf wie einen Eimer mit einer breiigen, rosa-grauen Masse. Arkadi fühlte sich seltsam entkleidet, und gleichzeitig wollte er schreien: Das bin ich nicht!
    Er nahm Block und Bleistift und wollte sich alles notieren, was Viktor ihm erzählt hatte. Spassky … Karpow … Fischer … Schach. Das war alles, woran er sich erinnerte.
    Eine Apfelsine lag auf dem Nachttisch. Welche Farbe hatte sie?
    Als er aufwachte, war es Abend. Neben der Apfelsine stand jetzt ein Plastikbecher mit lauwarmer Brühe und einem Strohhalm. Er hob den Kopf Millimeter für Millimeter und befühlte behutsam den Verband dort hinten. Elena Iljitschnina hatte gesagt, wenn sich dort Flüssigkeit sammelte, würde er hören, wie sie sich bewegte; also erinnerte er sich doch an manches.
    Eine junge Schwester kam, um seinen Blutdruck zu messen und den Verband zu wechseln; sie konnte den Blick nicht von seiner Stirn wenden, und er kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich ganz gut war, keinen Spiegel zu haben. Als sie gegangen war, wanderte sein Blick zum Fernseher, wo auf einen Zeichentrickfilm die Nachrichten folgten: verbesserte Zustände in Tschetschenien, brüderliche Solidarität mit Weißrussland, nüchterne Neueinschätzungen in der Ukraine. International nahm man mit Erleichterung zur Kenntnis, dass Russland seine traditionelle Führungsrolle wieder übernommen und die Weltordnung ins Gleichgewicht gebracht hatte. Meinungsumfragen in Russland selbst ergaben, dass die Zuversicht in der Bevölkerung zunahm und dass sich das Volk im Kampf gegen Terroristen einig war. Nikolai Isakow sprach auf einer Wahlveranstaltung der ultranationalen Russischen Patrioten unter freiem Himmel.
    »Schon wieder Twer.« Elena Iljitschnina war an Arkadis Bett erschienen.
    »Woher wissen Sie das?« Er sah auf dem Bildschirm nur eine Zuschauermenge.
    »Ich bin aus Twer.«
    Die Stadt Twer lag auf dem Weg von Moskau nach St. Petersburg. Darüber hinaus wusste Arkadi nichts über Twer. »Fahren Sie oft hin?«
    »Mit dem Zug, jeden Freitag nach Feierabend.«
    »Aber das ist ein Bummelzug, mitten in der Nacht. Warum fahren Sie nicht am Samstagmorgen mit dem Auto?«
    »Wenn ich ein Auto hätte, würde ich es tun. Klingt luxuriös.«
    »Haben Sie einen Freund dort?«
    » Nein. Meine Mutter liegt im Krankenhaus, noch nicht im Sterben, aber auf dem besten Wege dahin. Ich arbeite dort am Wochenende, um dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter sie gut behandeln. Genug über mich geredet.« Sie lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Fernseher, wo ein Trupp Jungen in Tarnanzügen zu sehen war. » Twer ist sehr patriotisch.«
    Transparente flatterten, ein farbenprächtiges Bild, auch wenn Arkadi die Farben nicht benennen konnte.
     
    Fünfzehn
    Das ringförmige Polster, das die Inzision an Arkadis Hinterkopf schützte, gestattete ihm nicht, seine Lage zu verändern. Elena Iljitschnina ragte in sein eingeschränktes Blickfeld.
    »Ich höre von den Schwestern, dass Sie nach Hause wollen.
    Schließlich ist die Gehirnoperation ja schon vier volle Tage her, vier Tage, seit Sie halb erwürgt und mit einem Kopfschuss hier eingeliefert wurden. Kein Wunder, dass Sie wieder loslegen möchten.«
    »Ich will einen Spiegel«, flüsterte er.
    »Noch nicht. Wenn Sie gehen

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