Stalins Geist
können - auf der Männertoilette ist ein Spiegel.«
»Setzen Sie mich in einen Stuhl, und fahren Sie mich hin.«
»Sie hängen hier an den Schläuchen.«
»Haben Sie keinen Spiegel bei sich?«
»Nicht im Dienst, nein. Haben Sie gut geschlafen?«
Arkadi erwähnte, dass er die halbe Nacht hindurch ein Klopfen gehört hatte, ein unregelmäßiges Klopfen, das erst von der einen Seite des Bettes und dann von der anderen zu kommen schien. Die Ärztin sagte, das sei in seinem Kopf. Sie sollte es wissen, das musste er zugeben.
»Ich brauche ein Telefon.«
»Später. Ich möchte nicht, dass Sie mit Ihrer Kehle übermäßig viel reden oder aus dieser Station ein Büro machen.«
»Ich möchte immer noch einen Spiegel«
»Morgen. »
»Das haben Sie gestern auch schon gesagt.«
»Morgen. »
Er trainierte sein Gedächtnis, indem er eine Seite in einer Zeitschrift las, Men’s Health oder Russian Baby, was immer er bekommen konnte. Dann wartete er fünf Minuten und prüfte, was er behalten hatte, wenn er es nicht vergaß. Oder er rief sich Telefonnummern ins Gedächtnis und verband sie mit Namen. Dabei kamen die ältesten Nummern zum Vorschein und machten ihren Vorrang wieder geltend: Pass nummer, Militärdienstnummer, Telefonnummern von Gesichtern, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Neuere Nummern wie die von Evas Handy waren wie Nebelschleier.
Die Zeit knabberte am Nachmittag. Stäubchen stiegen auf und sanken in stetem Kreislauf wieder herab.
Der Mann im Bett gegenüber starb. Sein Nachbar, ein Luftröhrenschnitt, drückte hektisch auf den Klingelknopf. Aus dem Augenwinkel, weiter hinten, sah Arkadi, wie die Ärzte ihre Runde machten und sich immer nach der Leber erkundigten. Die Sorge um die Leber stand an erster Stelle im Land des Wodkas.
Er kämpfte weiter mit seinem Gedächtnis. Ein paar Telefonnummern tauchten vollständig auf, andere nur teilweise: 33-31-33 zum Beispiel war der größte Teil einer Telefonnummer oder die komplette Kombination für einen Tresor.
Wessen Telefonnummer? Wessen Tresor?
»Wir haben die Inzision untersucht und die Leukozyten gezählt und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Heilung ausgezeichnete Fortschritte macht und Sie keine Infektion bekommen haben. Wollen Sie das alles für einen Spaziergang aufs Spiel setzen? »
»Ich muss ein bisschen gehen, Elena Iljitschnina. Ich brauche Bewegung.«
»Ich hätte Sie nicht für einen Bewegungsfanatiker gehalten.
Aber reden wir über Bewegung. Wir machen uns Sorgen um Ihren Gleichgewichtssinn und befürchten, Sie könnten - Gott behüte - hinfallen. Deshalb werden Sie Ihren ersten >Spaziergang<, wenn wir die Infusionen abgenommen haben, in einem Rollstuhl machen. Dann ein paar Schritte auf dem Gang, mit einem Begleiter, der Sie auffangen kann, wenn Sie stolpern. Später dann kurze Spaziergänge mit Freunden in Ihrer Nachbarschaft. »
»Und dann?«
»Halten Sie sich fern von der Metro, fahren Sie nicht Auto, schwimmen Sie nicht, rennen Sie nicht, spielen Sie nicht Fußball, lassen Sie sich nicht strangulieren, lassen Sie sich nicht auf den Kopf schlagen. Vielleicht sollten Sie überlegen, sich einen anderen Beruf zu suchen. Für jemanden in Ihrem Zustand wüsste ich kaum einen schlechteren als den, den Sie jetzt haben. Das Problem ist, dass Sie nicht wissen, wer Sie sind. Sie werden unerwartete Lücken erleben, Veränderungen in unterschiedlichen Fähigkeiten. Stimmungsschwankungen. Veränderungen im Geruchs- oder Geschmackssinn. Grenzen bei der Lösung von Problemen. Sie wissen noch nicht, was Sie nicht mehr haben. Die Kugel hat eine Schockwelle durch das ganze Gehirn gejagt. Sie müssen ihm Zeit geben, sich zu erholen.«
»Ich werde es nur ganz wenig benutzen.«
Elena Iljitschnina war nicht beeindruckt. »Habe ich Sie
schon nach Depressionen gefragt?«
»Nein. Ist das alles nicht schon schlimm genug?«
»Gab es Fälle von Depressionen in Ihrer Familie?«
»Das Normale.«
»Selbstmord?«
»Das Übliche.«
»Ihre Einstellung hat eine Menge mit Ihrer Genesung zu tun.«
»Ich werde genesen, wenn nicht noch einmal jemand auf mich schießt.«
Nachts versank die Station in narkotische Dumpfheit. Die diensthabenden Schwestern rieben sich die Augen und raschelten mit ihren Papieren. Das Ping einer Mikrowelle verkündete, dass etwas warm war.
Arkadi richtete sich so langsam auf wie ein Tieftaucher, der zur Wasseroberfläche hinaufsteigt. Das Bett drehte sich nur ganz wenig, und als die Übelkeit erträglich
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