Stalins Geist
Auberginen auf Erden wandeln.« Arkadi wählte 33-31-33, wartete und legte dann auf. Er war erschöpft.
»Wie die Baba Jaga.«
»Die Hexe, die kleine Kinder frisst? Ja, klar.«
»Wie mein Vater.«
Die Baba Jaga wohnte im Wald in einem Haus, das auf Hühnerbeinen stand, und der Gartenzaun war aus Menschenknochen. Schenja hatte immer geschwiegen, und Arkadi hatte Abenteuergeschichten über die Kinder erfunden, die von dort entkommen waren.
»Was soll das heißen? Jedes Wochenende sind wir deinen Vater suchen gegangen.«
Schenja sagte kein Wort.
Die Schweigenummer. Schenja war ein Künstler darin; es konnte eine Woche dauern, bis er wieder ein Wort sagte. »Dein Vater hat versucht, mich umzubringen, und er hätte dich auch umgebracht, aber du wolltest jedes Wochenende, dass wir ihn suchen. Warum?«
Schenja zuckte die Achseln.
»Wusstest du, was er vorhatte?«
Schenja warf die Schachfiguren in der Reihenfolge ihres Wertes in einen Wildlederbeutel. Mit den schwarzen Bauern fing er an; auch das war eins seiner Rituale. Arkadi erinnerte sich, wie der kleine Schenja im Gorki-Park die magischen vier Mal um den Brunnen gelaufen war.
»Du achtest gut auf deine Figuren.« Schenja steckte den Turm in den Beutel.
»Als ob sie lebendig wären, nicht wahr?«, sagte Arkadi. »Du spielst nicht einfach mit ihnen, du hilfst ihnen. Und du denkst nicht allein, sie tun es auch. Sie sind deine Freunde.« Schenjas Blick fuhr hoch, aber Arkadi benutzte nur den Schlüssel, den Schenja ihm gegeben hatte. »Du sagst, dein Vater ist die Baba jaga? Ist sie es, gegen die deine Freunde kämpfen?«
Auf der Digitaluhr an Schenjas schmalem Handgelenk war es zwei Uhr. Eine zeitlose Stunde in der Dunkelheit.
»Sie sind nicht lebendig«, sagte Schenja. »Sie sind aus Plastik.«
Arkadi wartete.
»Aber ich sorge für sie«, fügte Schenja hinzu. »Wie tust du das?«
»Ich verliere nicht.«
»Was würde passieren, wenn du verlierst?«
»Dann bekomme ich kein Abendessen.«
»Ist das schon oft passiert?«
»Anfangs.«
»Er war ziemlich gut?«
»So lala.«
»Wie alt warst du, als du ihn im Schach wirklich besiegt hast?«
»Neun. Er sagte, er wäre stolz. Dann hab ich einen Teller zerbrochen, und er hat mich mit dem Gürtel verprügelt. Er sagte, es wäre wegen des Tellers, aber ich wusste Bescheid.« Schenja gestattete sich ein winziges Lächeln.
»Wo war deine Mutter?« Das Lächeln verschwand. »Weiß ich nicht.«
»Ich hab gehört, dein Vater ist gern mit der Eisenbahn ge-
fahren. Er muss oft weg gewesen sein.«
»Er hat uns mitgenommen.«
»Hast du im Zug Schach gespielt?« Keine Antwort.
»Hast du Schach mit den anderen Fahrgästen gespielt?«
»Mein Vater wollte, dass ich sie ein bisschen herunterstutze.
Das hat er immer gesagt: >Stutz sie ein bisschen herunter.«< »Hat niemand je gefragt, warum du nicht in der Schule warst?«
»In der Eisenbahn? Nein.«
»Oder warum du so wenig Farbe in den Wangen hattest?«
»Nein.«
»Hast du je verloren?«
»Ein paar Mal.«
»Was hat dein Vater dann getan?« Keine Antwort.
»Und schließlich haben ein paar Goldgräber euch erkannt.«
»Sie haben meinen Vater verprügelt und mein Schachspiel
unter die Räder geschmissen.«
»Unter die Räder eines Zuges?«
»Ja.«
»Hat dein Vater das Spiel zurückgeholt?«
»Er hat mich geschickt. Aber ich hätte es sowieso getan.«
»Du bist also ein Jahr lang zwischen Moskau und Wladiwostok hin- und hergefahren und hast in einem Eisenbahnabteil Schach gespielt? Ein Jahr deines Lebens?«
Schenja schaute weg.
»Habt ihr je Ferien gemacht, du und dein Vater? Seid ihr zum Strand gegangen, über eine Wiese gelaufen?«
Schenja antwortete nicht, als wäre so eine Kindheit reine Fantasie. Aber Arkadi spürte, dass da noch etwas anderes fehlte.
»Als ich dich gerade nach den Reisen deines Vaters gefragt habe, hast du gesagt: >Er hat uns mitgenommen.< Dich - und wen noch?«
Schenja antwortete nicht und machte ein ausdrucksloses Gesicht.
» War es deine Mutter?« Schenja schüttelte den Kopf. »Wer dann?«
Schenja schwieg weiter, aber er sah beunruhigt zu, als Arkadi den weißen König aus dem Beutel nahm. Arkadi drehte die Figur in den Fingern und verbarg sie in der Faust. Dann öffnete er die Hand wieder, und der Junge riss die Figur an sich.
»Dora.«
»Wer war Dora?«
»Meine kleine Schwester. Sie war nicht gut im Schach. Sie
hat es versucht, aber sie verlor immer.«
»Was passierte dann?«
»Sie bekam kein Abendbrot.«
Arkadi
Weitere Kostenlose Bücher