Stalins Geist
geworden war, ließ er sich auf den Boden rutschen und stand. Er legte das ringförmige Polster auf das Bett und wartete, bis sein Kopf sich an die Höhe gewöhnt hatte. Er zog sich die Infusionskanüle aus dem Arm und stoppte die Blutung, bis auf ein paar Tropfen, mit dem Daumen. Um keine Geräusche zu machen, ging er ohne Pantoffeln los, aber er schob die Füße beim Gehen über den Boden. Der Weg zur Toilette war eine endlose Leere. Seine Knie zitterten. Wer konnte ahnen, dass aufrechtes Gehen eine solche Leistung war?
Als er die Toilettentür erreicht hatte, klebte sein Krankenhaushemd, eine Papierhülle, am Schweiß seines Körpers. Zuerst hatte er Angst, das Licht könnte automatisch angehen, wenn er die Tür öffnete, und dann hatte er Angst vor der pechschwarzen Finsternis, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er tastete mit beiden Händen umher, bis er einen Schalter fand.
In dem Raum gab es eine Toilettenkabine, ein Waschbecken und einen Spiegel. Er urinierte, und auf dem Weg hinaus sah er eine Kreatur mit einem rasierten, blau angelaufenen Schädel und einem violetten Ring um den Hals. Arkadi drehte sich so weit um, dass man das Ende einer schwarzen Naht sehen konnte, und der Clown zeigte ihm das Gleiche. Zusammen schälten Arkadi und der Clown den Pflasterverband von der Stirn, und darunter kam eine Reihe von wimpernähnlichen Fäden zum Vorschein.
Arkadi wandte sich taumelnd vom Spiegel ab und ging hinaus. Im Korridor stützte er sich gegen die Wand, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er war ein Stück weit gegangen, ehe er begriff, dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte: Er war nicht mehr auf der Station, sondern in einem ganz anderen Teil der Etage. Er wusste nicht einmal genau, woher er gekommen war.
Was konnte er tun? Nach links gehen, nach rechts gehen, oder für den Rest der Nacht in einem Papierhemd hier stehen bleiben, bis es hell genug war, um den Rückweg zu finden. Aber würde eine Schwester nicht schon vorher merken, dass sein Bett leer war? Wenn das alles war, was sein neues Gehirn zustande brachte, wäre er schwer enttäuscht.
Er lauschte nach dem Geräusch eines Aufzugs. Vor Aufzügen war der Flur immer beleuchtet, und es gab Wegweiser. Oder wurde irgendwo der Boden gewischt? Die Putzfrau wäre vielleicht eine freundliche Seele, die ihm den Weg erklären würde. Stattdessen hörte er nur ein Klopfen, das Geräusch, das seit fast einer Woche immer wieder in sein Bewusstsein gedrungen war.
Arkadi folgte dem Geräusch bis zur übernächsten Tür. Der Türknauf ließ sich mühelos drehen, und er sah ein Zimmer mit einer Untersuchungsliege, einem Waschbecken und einer Tafel, die das menschliche Verdauungssystem zeigte. Schenja hockte auf dem Boden in einem Nest aus Krankenhauswolldecken und spielte Schach auf einem Computerbrett aus Plastik im Licht einer Schreibtischlampe, die er neben sich gestellt hatte. Er blickte auf und starrte Arkadi an. Jeder andere Junge hätte vielleicht geschrien.
»Na, los.« Arkadi ließ sich in einen Rollstuhl sinken. »Spiel zu Ende. Ich muss mich setzen.«
Schenja spielte Schwarz, und er war im Endspiel. Weiß hatte mehr Figuren, aber sie waren auf dem Brett verstreut, während Schenjas Springer den weißen König zur Panik trieb, und er beendete das Spiel mit einem gefesselten Turm, einem falschen Bauern und einer schnellen Folge von Schachgeboten. Jeder Zug wurde begleitet vom schnellen Ticken einer simulierten Schachuhr, tick-tick, tick-tick, tick-tick. Matt.
Schenjas Gesicht schwebte über dem kleinen Lichtkreis der Lampe. Seine weit aufgerissenen Augen wurden von unten beleuchtet. Er trug immer noch seinen Anorak.
»Was machst du hier?«, fragte Arkadi.
»Dich besuchen.«
»Nachts?«
»Wenn ich mal im Krankenhaus bin, kann ich auch hier bleiben. Ist ganz einfach. Ich gehe von einem Wartezimmer ins andere. Da gibt’s Coke-Automaten.«
Für Schenjas Verhältnisse war das eine Rede.
»Nächstes Mal kommst du während der Besuchszeit, wenn ich wach bin.«
»Bist du wütend?«
»Wegen des … » Arkadi deutete auf seinen ramponierten Schädel. »Nicht auf dich.«
»Ich bin weggerannt. Mein Vater hat auf dich geschossen, und ich bin weggerannt. »
»Ich hab schon Schlimmeres getan.«
Arkadis Blick fiel auf ein Telefon. Als er den Hörer abnahm, hörte er ein Freizeichen.
»Wen willst du anrufen? », fragte Schenja. »Ist ziemlich spät.«
»Es ist nicht bloß spät, es ist die Stunde, da Männer mit Köpfen wie
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