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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Arkadi.
    »Muss wieder arbeiten«, schrieb er auf den Block. Sie legte ihm die Apfelsine auf die Brust. »Üben Sie.«
    »Hat Elena Iljitschnina dir erzählt, was in der Nacht passiert ist? Ich war wie EI Cid: Tot auf den Sattel gebunden, bin ich ein letztes Mal den Mauren entgegengeritten.«
    »Besoffen?«, schrieb Arkadi.
    »Ja. Hat aber trotzdem geklappt. Wer immer da war, ist abgehauen.«
    »Der Tote«, schrieb Arkadi. »Der Mann, der auf mich geschossen hat.«
    »Der Täter vor dem Kasino war Ossip Igorewitsch Lysenko.
    Kürzlich aus der Haft entlassen - acht Monate wegen Dealens mit Methamphetamin. Seine erste Anstellung danach hatte er bei einer Straßenbaufirma. Hat überall in der Stadt gearbeitet. Ich hab die Frauen in seiner Kolonne befragt. Sie sagten, sie hätten Reparaturarbeiten in deiner Straße ausgeführt, als Lysenko angefangen hätte, sich merkwürdig aufzuführen, als wäre er der Chef. Und ein schräger Vogel war er schon von Anfang an, das kannst du mir glauben. Ich war in seiner Bude. Ein dreckiges Rattenloch voller Müll und Stapeln von Schachbüchern - Kasparow, Karpow, Fischer, all die Meister. Und was hatte er überall reingekritzelt? Bessere Züge. Glaubte er wenigstens. Er war ein Speedfreak, deshalb hat er wahrscheinlich eine Menge geglaubt.«
    »Schenja.«
    »Er hatte ein Bild von ihnen bei den beim Schachspielen, was sonst? Das war die Familienrnasche, die transsibirische Nummer. Ossip Lysenko ist mit dem kleinen Schenja Zug gefahren. Du weißt, wie es auf einer langen Zugfahrt ist. Irgendwann wird’s langweilig, aus dem Fenster zu gucken. Lesen wird auch langweilig. Schon zwei Tage unterwegs, noch vier vor dir, und du hast Langeweile. Dann siehst du eine offene Abteiltür, und drinnen sitzt ein Vater mit seinem Sohn und spielt Schach. Eine rührende Szene, und du bleibst kurz stehen, um zuzusehen.
    Der Kleine gewinnt, und der Vater erzählt dir und allen anderen Anwesenden, dass der Bengel niemals verliert. Das amüsiert dich. Du bist Hydrologe oder Ingenieur oder ein Goldgräber aus Kamtschatka. Der Vater sagt: >Wenn Sie mir nicht glauben, spielen Sie doch selber gegen ihn.< Der Bengel ist acht oder neun, sieht aber jünger aus. Und Scheiße - er serviert dir deinen Kopf auf einem Silbertablett. Du, ein Mann der Wissenschaft oder ein rauer Naturbursche, kriegst von einem kleinen Jungen den Arsch aufgerissen, und zwar in aller Öffentlichkeit, denn inzwischen ist Gedränge auf dem Gang. Hier gibt’s Unterhaltung, die einzige Unterhaltung auf ein paar tausend Kilometern. Lysenko muss mit der Schaffnerin vereinbart haben, dass sie bei ihrem Samowar sitzen bleibt und ihm nicht in die Quere kommt.
    Jetzt meinst du es ernst. Das erste Spiel zählt nicht. Wie spielt der Junge, wenn es um Geld geht? Er macht dich ein zweites Mal fertig, und jetzt heißt es für dich: doppelt oder nichts. Und genau das hast du bald: nichts. Der nächste Gimpel rückt auf deinen Platz. Der Vater warnt sie und sagt, dass der Junge nie verliert. Sie sind gewarnt, und gerade das macht sie scharf.
    Die bei den Lysenkos haben ein Jahr lag jeden Monat zwei Hin- und Rückfahrten gemacht und dabei kaum den Boden berührt. Die Masche war erst zu Ende, als sie es auf zwei Fahrten hintereinander bei denselben Goldgräbern probierten. Es waren unglückliche Goldgräber, und sie haben Ossip ziemlich übel zugerichtet. Danach fing er an, mit Methamphetamin zu dealen.«
    »Mutter?«
    »Nichts. Ich hatte das Gefühl, sie ist schon lange weg. Natürlich werden wir von Schenja nichts erfahren, denn er ist verschwunden. Frag mich nicht, warum oder wohin. Es gibt hundert Löcher, in die der Bengel sich verkrochen haben kann.«
    »Gestern. Betrunken?«
    »Oh, nicht einfach betrunken. Fantastisch betrunken, betrunken auf einer ganz neuen Ebene. Dafür muss ich mich bei deinem Freund Platonow bedanken. Wir haben seine fünfhundert Dollar genommen und sind geradewegs ins Aragwi gegangen. Georgische Küche, Blini, Kaviar, Jahrgangschampagner, hysterische Frauen. Es war eine schöne Geste von ihm.« Viktor bekam einen Schluckauf. »Wir haben auf dich getrunken.«
    Als hättet ihr für mich gebetet, dachte Arkadi.
    Während Viktor noch da war, schlief Arkadi ein, und als er erwachte, war es vier Uhr nachmittags, und jedes Bett war ein Aerodrom für Fliegen. Sie schwirrten, kreisten und flogen Knoten in die Luft, während die Patienten moderten. Manche Männer moderten zusammen mit ihren Familien hinter diskret geschlossenen

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