Stalins Geist
eine kleine, runzlige Narbe.
»Du erstaunst mich immer wieder«, sagte Arkadi. »Du auch?«
»War ein bisschen was anderes. Ich hatte ein winziges Drogenproblem, vor ungefähr zehn Jahren. Da hab ich mich aufbohren lassen.«
»Aufbohren? »
»Mit örtlicher Betäubung. Ich hab mich mit dem Arzt unterhalten, während er ein kleines bisschen Hirngewebe aus beiden Hemisphären entnahm. Ein Abstrich nur. Die Prozedur war ein wunderbares Beispiel für russischen Erfindungsreichturn. Jetzt ist es verboten, weil Elena Iljitschnina ihn angezeigt hat, aber es hat funktioniert. Seitdem bin ich drogenfrei.«
»Gratuliere. Und das Trinken?«
Viktor strich sein Haar glatt. »Das füllt die Lücke. Macht mich vollständig. Es ist meine Fassade. Jeder hat eine Fassade, sogar du, Arkadi. Jeder sieht einen friedlichen Mann. Aber du hast nichts annähernd Friedliches an dir. Du und ich, wir haben angefangen, gegen zwei Kriminalbeamte zu ermitteln. Jetzt bist du hinter den Schwarzen Baretten her.«
»In Tschetschenien ist etwas passiert.«
»Schreckliche Dinge, ohne Zweifel. Das ist der Krieg. Aber warum sollten Helden wie Isakow und Urman nach Moskau zurückkommen und ihre Freunde und ehemaligen Waffenkameraden umbringen? Weißt du, was diese Notizen summa summarum sind? Wunschdenken. Frage dich, auf wen du es abgesehen hast - auf Isakow oder auf Eva? Ich spreche als der Mann, der den Mann getötet hat, der auf dich geschossen hat. Wieso glaubst du, Eva ist unglücklich mit Isakow?« Als Arkadi nicht antwortete, brachte Viktor ein halbes Lächeln zustande. »Scheiße, vergiss das alles. Ich fasele. Ich bin betrunken.«
»Für mich klingst du ganz nüchtern. Denk über dreiunddreißig - einunddreißig - dreiunddreißig nach. Ich frage mich, warum mein Gehirn sich auf diese Nummer versteift hat.«
»Vielleicht kann dein Gehirn dich gerade nicht ausstehen.«
Mit dem einsetzenden Tauwetter hatte ein Umzugslaster endlich Arkadis Möbel und seine sonstigen Besitztümer gebracht, darunter auch ein Feldbett, aber Schenja wahrte seine Unabhängigkeit, indem er weiter auf dem Sofa schlief, den Rucksack für einen augenblicklichen Abgang griffbereit neben sich. Er trug immer noch die Spuren frühkindlicher Unterernährung, doch er hatte angefangen, Gewichte zu heben, und bekam allmählich harte kleine Muskeln, wie Knoten in einem Seil.
Er erledigte seine Schularbeiten schnell, damit er im Fernseher einen Nostalgiesender einschalten konnte, der körnige Dokumentarfilme aus dem Krieg zeigte, Filme über die Belagerung Leningrads, die Verteidigung Moskaus, das Blutbad und den Heldenmut von Stalingrad, das inzwischen Wolgograd hieß, aber für alle Zeit Stalingrad bleiben würde. Er sah Kriegsfilme über Piloten, Panzerbesatzungen und Infanteristen, die einander Fotos ihrer Mütter, Frauen und Kinder zeigten, bevor sie einen Maschinengewehrbunker angriffen, ein brennendes Flugzeug steuerten oder mit einem Molotow-Cocktail auf einen feindlichen Panzer zuschlichen.
»Es tut mir leid«, sagte Schenja.
Arkadi war ein wenig erschrocken. Er saß am Schreibtisch und schrieb in seinen Notizblock, und er hatte Schenja nicht kommen hören.
»Danke. Es tut mir leid wegen deinem Vater.«
»Hast du es gesehen?«
»Nein, nicht richtig.«
»Du erinnerst dich nicht?«, fragte Schenja. »Nein.«
Schenja nickte, als wäre das eine gute Entscheidung. »Erinnerst du dich, wie wir im Gorki-Park waren?«
»Natürlich. »
»Erinnerst du dich an das Riesenrad? » »Ja. Dein Vater hat es betrieben.«
Ossip Lysenko hatte die perfekte Gelegenheit zum Drogenhandel gefunden: junge Leute, die für eine ungestörte Fünf-Minuten-Fahrt in einer Gondel unter freiem Himmel bar bezahlten. Dass niemand versucht hatte, ganz oben vom Riesenrad zu fliegen, war ein Wunder.
»Er war nie da«, sagte Schenja.
Gott sei Dank, dachte Arkadi. So waren sie beide mit einer falschen Annahme in den Park gegangen. Arkadi hatte geglaubt, der Junge suche seinen verschwundenen Vater. Der Junge hatte gedacht, Arkadi trage eine Waffe.
Eine Minute war normalerweise das zeitliche Limit für eine Unterhaltung mit Schenja, aber jetzt blieb er hartnäckig, und seine Miene hellte sich auf. »Der Winter ist Mist.«
»Manchmal ganz sicher.«
»Auf dem Güterbahnhof könnte man erfrieren. Tagsüber Klebstoff schnüffeln, und nachts wirst du blau. Da geht man dann in die Unterkunft.«
»Als ob man auf der Krim überwintert.«
»Das Problem ist, wenn Eltern aufkreuzen, liefern sie
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