Stalins Geist
Spitzbart, aber vor allem war er ein Leierkastenmann der Lobgesänge auf den Generalsekretär. Nach Kalinins Auffassung war Stalin »unser bester Freund, unser größter Lehrer, der Pfadfinder durch die Jahrhunderte, ein Genie der Wissenschaft, heller als die Sonne, der größte Militärstratege aller Zeiten«. Stalin versuchte ihn zu bremsen - bitte aufhören, genug jetzt -, aber er wollte nicht. Als die Sowjetunion zerfiel, nahm die Stadt Kalinin wieder ihren alten Namen an.
Trotz der Wärme hatte Elena Iljitschnina leuchtend rote Ohren, und Arkadi dachte plötzlich, dass sie dem Ideal vieler Männer entsprach: Eine große Frau, sagte Viktor oft, war ein Fels in stürmischer Brandung. Elena Iljitschnina hatte eine Schicht in Moskau gearbeitet und würde bald eine Schicht in Twer übernehmen, und sie nutzte jetzt auf den letzten Kilometern bis zur Stadt die Gelegenheit zu einem Nickerchen, was ihm ganz recht war. Er empfand ihre Gesellschaft als angenehm, solange sie nicht redete.
Als sie sich Twer näherten, merkte er, dass sie wach war und ihn beobachtete. »Ich höre, Sie sind ein Kriminalbeamter, der keine Waffe trägt«, sagte sie. »Was für eine Philosophie steckt dahinter?«
»Gar keine. In manchen Situationen wird die Waffe zum Problem. Man fängt an, sich zu fragen, wann man sie zeigen, wann man sie benutzen soll. Sie ist wie eine Lokomotive: Sie bringt einen, wohin sie will.«
»Und dann muss Ihnen doch jemand eine Kugel aus dem Kopf operieren.«
»Das System ist nicht wasserdicht. Wollen Sie mir damit
sagen, ich bräuchte in Twer eine Waffe?«
»Nein.«
»Wie ist Twer?«
»Patriotisch. In Moskau bezahlen die Leute einen Arzt dafür, dass er sich Gründe ausdenkt, weshalb ihr kostbarer Sohn nicht zum Militär gehen kann. Natürlich ist das Militär brutal und dumm, aber in Twer, wo die Söhne genauso kostbar sind, geht jeder hin.«
»Moskau scheint dort unbeliebt zu sein.«
»Ich würde mir ein neues Nummernschild besorgen.«
Das klang in seinen Ohren übertrieben - er wusste schließlich nicht einmal, wie lange er in Twer sein würde -, und er wechselte das Thema und erkundigte sich nach der Gesundheit ihrer Mutter.
»Heute so, morgen so.« Sie sah plötzlich erschöpft aus. »Morgen bin ich wieder in Moskau. Und da vorn ist die Klinik.«
Sie hielten vor dem Eingang eines trostlosen sechsstöckigen Gebäudes aus Glas und vorgefertigten Betonteilen, das einmal modern ausgesehen hatte. Eine Schmutz schicht lag auf den Glasscheiben, und der Beton war fleckig vom Rost des minderwertigen Armierstahls.
»Drinnen sieht es besser aus.« Elena Iljitschnina kritzelte etwas auf eine Karte und gab sie Arkadi. »Ich habe meine Handynummer dazugeschrieben. Für den Fall … »
»Für alle Fälle.« Er nickte.
Als Arkadi wieder auf der Straße war, überholte ihn ein Pulk von Motorrädern, vielleicht zwanzig Biker in einer schmuddeligen Kombination aus dunklen Brillen, Gesichtsbehaarung und Lederjacken. Ihre Motorräder funkelten wie chromgefasste Edelsteine. Mit seinen langen roten Haaren und dem Tuch um die Stirn sah der Anführer aus wie ein Freibeuter. Seine Maschine war niedrig, lang gestreckt und rubinrot, und im Vorbeifahren winkte er Arkadi zu, er solle sein Fenster herunterdrehen.
»Scheiß auf Moskau!«, schrie der Biker. Die Meute rollte vorüber.
Arkadi beschloss, sich ein neues Nummernschild anzuschaffen.
»Willkommen in Twer.« Bei dem städtischen Staatsanwalt Sarkisian klang ein Satz wie ein einziges, zischelndes Wort. Er bugsierte Arkadi in seinem Büro umher, damit dieser sich an den Fortbildungsdiplomen und Ölgemälden vom Berg Ararat erfreuen konnte; an einem Ehrenplatz hingen Fotos, die den Staatsanwalt im Judoanzug mit dem Präsidenten persönlich zeigten. Ansonsten sah das Büro genauso aus wie Surins: ein sowjetroter Teppich, dunkle Wandtäfelung, Vorhänge in dunklem Kastanienbraun. Durch das Fenster bot sich ein Blick auf einen Platz mit einer Statue Lenins, der für dieses Wetter zu warm angezogen war. »Schade, dass Sie das Mittagessen verpasst haben. Sie werden feststellen, dass dies eine sehr freundliche Stadt ist. Es gibt Höhen und Tiefen, doch wo gibt es die nicht? Aber wenn Sie sich erst eingewöhnt haben, ist es der freundlichste Ort auf Erden. Es gibt keine Geheimnisse in Twer.« Sarkisian drückte Arkadis Schultern. »Sie haben sich freiwillig hierher gemeldet?«
»Ja.«
»Ich hatte eine Unterredung mit Surin, von Staatsanwalt zu Staatsanwalt. Sie haben den
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