Stalins Geist
Tanja?«
»Die, die Harfe spielt.«
»Die tritt später auf.«
»Geht’s ihrer Nase besser?«
»Hier kommt keiner her, weil er ihre Nase sehen will.« Arkadi trennte die Verbindung. Er holte sich ein kleines Glas
Wodka und eine Zigarette. Allmählich fühlte er sich wieder wie er selbst. Schenja verfolgte wieder den Krieg. Die Hitler- Truppen waren auf dem Rückzug. Ihre Laster und Munitionswagen versanken im Schlamm. Tote Pferde und ausgebrannte Panzer säumten die Straße. Arkadi griff nach seinem Handy und wählte eine Moskauer Nummer.
»Ja?«
»Staatsanwalt Surin.«
»Sind Sie das, Renko? Verdammt, das ist meine Leitung für Notfälle. Hat das nicht Zeit?«
»Ich habe mich entschieden, was meinen nächsten Posten angeht, und ich möchte so schnell wie möglich dorthin. Nicht herumlungern, wie Sie gesagt haben.«
Surin sortierte sich. »Oh. Na, das ist die richtige Einstellung. Also nach Susdal. Ich beneide Sie. Sehr malerisch da. Aber vielleicht haben Sie auch einen anderen ruhigen Ort im Sinn. Was soll es denn sein?«
»Twer.«
Darauf folgte eine lange Pause. Beide wussten: Wenn der Staatsanwalt im Laufe ihrer langen beruflichen Zusammenarbeit irgendeinen Vorwand hätte finden können, Arkadi nach Twer zu schicken, dann hätte er sie beim Schopf gepackt. Jetzt, da Arkadi sich freiwillig in diesen Abgrund stürzen wollte, hielt Surin hörbar den Atem an.
»Ist das Ihr Ernst?«
»Twer ist der Ort meiner Wahl.«
Isakow war aus Twer. Die Schwarzen Barette an der Sunscha-Brücke waren alle aus Twer. Tanja war aus Twer. Wie, fragte Arkadi sich, konnte er irgendwo anders hingehen? »Was haben Sie vor, Renko? Niemand geht freiwillig nach Twer. Arbeiten Sie an einem Fall?«
»Wie denn? Sie haben mir keinen gegeben.«
»Das stimmt. Na schön, also nach Twer. Sagen Sie mir nicht, warum. Sagen Sie einfach nur Moskau Auf Wiedersehen.« Auf dem Bildschirm trug eine siegreiche Rote Armee umgedrehte Nazi-Fahnen vor sich her und jubelte dem Mann auf Lenins Grab zu.
In einem Anfall von Großzügigkeit legte Arkadi obendrein auch für Stalin eine Seite in seinem Notizblock an.
Siebzehn
Auf der Fahrt nach Twer verließ Arkadi Moskau und kam nach Russland.
Kein Mercedes, kein Bolschoi, kein Sushi, keine asphaltierte Welt - stattdessen Schlamm, Gänse, Äpfel, die vom Pferdewagen kullerten. Keine Stadtvillen in eingezäunten Wohnanlagen, sondern Kotten, die man mit Katzen und Hühnern teilte. Keine Milliardäre, sondern Männer, die am Rand der Landstraße Vasen verkauften, weil die Kristallfabrik, in der sie arbeiteten, kein Geld hatte und sie deshalb in Naturalien bezahlte, sodass jeder Einzelne von ihnen zum Unternehmer wurde, der eine Vase in der einen Hand hielt und mit der anderen die Fliegen fortwedelte.
Für einen Wintertag war es ungewöhnlich warm, aber Arkadi fuhr mit geschlossenen Fenstern, weil die Lastwagen so viel Staub aufwirbelten. Der Schiguli hatte weder Klimaanlage noch CD-Player, doch der Motor lief auch mit Wodka, wenn es sein musste. Von Zeit zu Zeit war das Land so flach, dass der Horizont sich vor ihm ausbreitete wie ein Fächer, und Wiesen und Sümpfe erstreckten sich in alle Himmelsrichtungen. Ab und zu zweigte ein Feldweg ab und führte zu einer Handvoll Hütten und einer von Birken umstandenen Kirche, die aussah wie eine schiefe Ostertorte.
Auf dem Beifahrersitz saß Elena Iljitschnina und schaute traurig in die vorüberziehende Landschaft. Zu Arkadis Erstaunen hatte sie sein Angebot angenommen, mit ihm in ihre Heimatstadt zu fahren und ihre Mutter zu besuchen. Die Dörfer am Straßenrand lagen im Sterben, ausgehöhlt durch den Massenexodus der jungen Leute, die nach Twer zogen, nach Moskau oder St. Petersburg, statt das zu erleiden, was Marx »die Idiotie des Landlebens« nannte. In einem Dorfladen gab es Gummistiefel und Segeltuchjacken. Moskau hatte Supermodels und Videotheken. Eine ganze Generation zog in die Stadt, um ein Vermögen zu machen, den Umgang mit Computern zu erlernen, herumzuhängen, in Teilzeitjobs zu arbeiten, eine Papiermütze zu tragen und Hühnchen zu braten - kurz, um auf diese oder jene Weise an der Zukunft teilzuhaben. Das Sterben eines Dorfes konnte man anhand der Zahl der Häuser verfolgen, die ohne neuen Anstrich allmählich grau wurden und zwischen den Bäumen verschwanden: In den meisten Dörfern war das Grau wie eine Epidemie.
Während des Krieges hatte Twer zu Ehren des russischen Präsidenten Kalinin geheißen. Kalinin hatte einen auffallenden
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