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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Ruf eines, sagen wir, ungewöhnlich aktiven Ermittiers. Sie sind gern am Tatort.«
    »Das stimmt wohl.«
    »Ich habe einen anderen Ansatz. Ich betrachte meine Ermittler als Redakteure, nicht als Autoren. Lassen Sie die Kriminalpolizei die Straftaten untersuchen. Ihre Rolle besteht darin, aus dem, was sie findet, einen Fall zu machen, mit dem ich vor Gericht gehen kann. Wie bei den Gänsen, wenn sie nach Süden fliegen. Da fliegt nicht jede in eine andere Richtung, sondern sie fliegen in Formation. Richtig?«
    »Ja.«
    »Ist auch weniger strapaziös. Die Ärzte haben Ihnen grünes Licht gegeben?«
    »Ich bin vollständig genesen.«
    »Ausgezeichnet, aber bevor Sie an die Arbeit gehen, nehmen Sie sich ein paar Tage Zeit, um sich zu orientieren. Darauf bestehe ich. Die Kollegen lernen Sie später kennen. Hätte man mich rechtzeitig von Ihrer Ankunft in Kenntnis gesetzt, hätten wir eine angemessene Feier veranstalten können. So können wir von Glück sagen, dass wir wenigstens ein Zimmer gefunden haben, in dem Sie schlafen können.«
    »So voll ist Twer?«
    »Oh, Twer ist eine sehr belebte Stadt. Wir haben Sie im Schiffer untergebracht. Ich gebe Ihnen eine Wegbeschreibung.« Der Staatsanwalt hatte sie bereits ausgedruckt. »Wie gesagt, nutzen Sie die nächsten Tage, um sich einzugewöhnen. So haben Sie Gelegenheit, sich ernsthaft zu überlegen, ob Sie sich hierher versetzen lassen wollen oder nicht. Danach reden wir über die Arbeit.«
    Sarkisian führte Arkadi in den Flur hinaus. In einer Vitrine neben dem Lift waren Judomedaillen, Trophäen und Gürtel ausgestellt.
    »Zusammen arbeiten, zusammen spielen. Ist es in Moskau auch so?«
    »Wir trinken zusammen.« Endlich kam der Aufzug, ein Vorkriegsmodell von Otis mit einem bewaffneten Liftführer. Arkadi trat ein, hielt die Tür aber offen. »Moskau scheint hier nicht besonders beliebt zu sein.«
    Sarkisian tat die offenkundige Feststellung mit einem Achselzucken ab. »Moskau will das einzige Schwein am Trog sein. Wir Übrigen dürfen ruhig verhungern, was Moskau angeht. Also sorgen wir hier in Twer selber für uns.«
    Twer war früher eine elegante Stadt gewesen, mit einem kaiserlichen Palast und einem Fluss, der Wolga, der eine Inspiration für Dichter gewesen war. Dann kam die Revolution, danach der Krieg, die Implosion des Sowjetreichs und das ökonomische Raubritterturn, und Twer schrumpfte, so erschien es Arkadi, auf zwei Boulevards mit klassischer Architektur das Schauspielhaus war ein rosarot abgesetzter griechischer Tempel -, umgeben von vereinzelten Geschäften, stillgelegten Fabriken und grauen Nachkriegswohnbauten. Arkadi fuhr in der Stadt umher, solange es noch hell war, denn russische Stadtpläne waren die eine Sache und die Wirklichkeit manchmal eine ganz andere. Es gab Umleitungen, Straßenbauarbeiten, Einbahnstraßen, bewachte Straßen, Straßen, die es überhaupt nicht gab, und alle möglichen Überraschungen.
    Das Kurzzeitgedächtnis war ein Problem für Arkadi. Dreimal fand er sich unerwartet bei der Lenin-Statue wieder. Er aß ein Pirog, das er an einem Kiosk gekauft hatte, und betrachtete Lenin, der eine Taube studierte. Schließlich ging er hinunter zum Fluss.
    Hier hatte die Zarin Katharina einen Palast für ihre Amouren gebaut. Hier war der Dichter Puschkin am Ufer entlang flaniert und hatte »Gefühle, Gedanken und magische Klänge« miteinander verwoben. In einem normalen Winter wäre die Wolga zugefroren gewesen, und Arkadi hätte über den Rücken des Flusses wandern können, aber die Wolga, die er vorfand, war angeschwollen von der Schneeschmelze und strömte tosend durch ihr Bett.
    Als Junge hatte Arkadi bei seiner Mutter Klavierunterricht gehabt, und eins der ersten Stücke, die er gelernt hatte, war » Die Wolgaschiffer« gewesen. Die Schiffer verdingten sich als Zugtiere; sie schnallten sich Geschirre um die Brust und zogen Barken und Schiffe mit ihrer Körperkraft gegen die unerbittliche Strömung den Fluss hinauf. »Hau-ruck! Ho, hau-ruck!« Arkadis linke Hand hämmerte dramatisch auf die Tasten, während die rechte die Melodie zusammensuchte, die den Fatalismus von Männern zum Ausdruck brachte, deren einzige Entspannung der Wodka war und deren Bett die Lumpen, die sie am Leib trugen.
    Die Fernfahrer im Hotel Zum Schiffer hielten diese Tradition aufrecht; sie schliefen auf schmutzigen Laken, duschten mit kaltem Wasser und zogen sich vor einem zerbrochenen Spiegel an. Die Tapete war ein Wandgemälde aus Flecken. Eine Sprühdose mit

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