S.T.A.L.K.E.R. 01 - Todeszone
Igor. Er bückte sich noch tiefer. Das Papier war halb unter den Reifen gerutscht, entzog sich seinen tastenden Fingern. David presste die Lippen zusammen und schob es vorsichtig weiter nach vorne, näher an die Finger heran.
Igor seufzte. „Verdammt, wo ist es denn?", sagte er leise. Plötzlich tauchte sein Kopf neben dem Reifen auf. Sein Blick richtete sich auf das Papier, seine Hand griff danach.
„Na endlich."Igor steckte das Papier in die Tasche und richtete sich auf. David wollte bereits aufatmen, doch im gleichen Moment drehte der Pfleger den Kopf und sah ihm genau in die Augen.
Eine Ewigkeit, die in Wahrheit nur Sekunden dauerte, verging. David blickte in graue Augen, reglos und stumm. Igor erwiderte den Blick. Seine Hand hing wie eingefroren über seiner Kitteltasche.
Dann grinste er breit. „Hab dich", flüsterte er.
David trat zu. Er dachte nicht darüber nach, zog einfach nur die Beine an und trat mit aller Kraft gegen die Knöchel des Pflegers. Dessen Füße wurden zur Seite gestoßen. Mit einem erschrockenen Aufschrei verlor er das Gleichgewicht. Dumpf schlug sein Kopf gegen den Kotflügel.
Er stöhnte.
David drängte sich an ihm vorbei unter dem Auto hervor. Ohne zurückzublicken sprang er auf und rannte auf die Ausfahrt zu. Hinter ihm schrien Wladimir und Irina fast gleichzeitig „Da ist er!", während die beiden Patienten in ihrem Fenster zujubeln begannen.
David hörte, wie sich Schritte näherten. Seine Sohlen gruben sich in den Schotter, stießen sich mit aller Kraft ab. Hinter ihm keuchte Wladimir. Er war näher, als David gehofft hatte.
Die Ausfahrt kam quälend langsam auf ihn zu.
„Bleib stehen, verdammt noch mal!", schrie Igor über den Parkplatz. „Wir kriegen dich ja doch!"
David beachtete ihn nicht, konzentrierte sich nur auf den jeweils nächsten Schritt. Er glaubte Wladimirs Atem in seinem Rücken zu spüren. Nur noch fünf Meter trennten ihn von der Ausfahrt, nur noch vier, dann drei, zwei.
Ein grüner Lada bog vor ihm ein. David keuchte erschrocken, sah nur noch die Frontscheibe und den Umriss eines Körpers dahinter. Er rannte zu schnell, um dem Wagen noch ausweichen zu können.
In einem Sekundenbruchteil traf er seine Entscheidung. Er stieß sich vom Boden ab und landete mit einem Satz auf der Motorhaube. Einen Moment drohten seine Sohlen wegzurutschen, dann fing er sich und erreichte mit einem weiteren Sprung das Dach. Durch das geöffnete Wagenfenster hörte er den Fahrer fluchen. Die Stimme kam ihm bekannt vor.
David stießsich vom Dach ab, nutzte den Kofferraum wie eine Treppenstufe und landete auf dem Asphalt der Straße. Ohne anzuhalten stürmte er weiter. Lastwagen hupten, ein Motorradfahrer wich ihm nur knapp aus, aber dann war er bereits auf der anderen Straßenseite und sprang in den Graben. Wasser spritzte nach oben und durchnässte seine Jeans. Keuchend kletterte David nach oben und stolperte auf das Feld, das sich vor ihm ausbreitete. Sein Herz pochte im Rhythmus seiner Schritte, seine Kehle brannte. Doch er hielt nicht an, wusste nicht mal, ob er das überhaupt gekonnt hätte. Etwas in ihm trieb ihn über das abgeerntete Feld auf Gestrüpp und Bäume zu. Der Zone entgegen.
10.
MITARBEITERPARKPLATZ
NORDWESTKRANKENHAUS
19. Juli 2004, 09:32 Uhr
Alexander Marinin trat die Bremse so fest durch, dass die Reifen blockierten und der Wagen über den Schotter des Krankenhausparkplatzes rutschte - mitten in David Rothe hinein, der ihm entgegenlief, als wäre der Tod selbst sein Verfolger.
Doch der Junge entging dem Unfall mit einem Sprung. Marinin sah ihn einen Moment lang auf seiner Motorhaube, dann hörte er hämmernde Schritte auf dem Dach. Metall verformte sich, in der Windschutzscheibe bildete sich ein langer Riss.
Marinin drehte sich im Sitz um. Hinter ihm sprang David auf den Boden und lief ohne auf den Verkehr zu achten über die Straße. Es war beinahe ein Wunder, dass ein Motorrad ihn verfehlte.
„Scheiße!"Ein weiß gekleideter Pfleger lief an Marinin vorbei. Ein zweiter, der ein blutiges Taschentuch unter seine Nase presste, folgte ihm etwas langsamer. Die beiden rannten aus der Ausfahrt und über die Straße, allerdings mit deutlich größerer Vorsicht.
Marinin sah ihnen nach. Durch das geöffnete Wagenfenster hörte er die Rufe einiger Patienten, die so klangen, als würden sie den Jungen anfeuern.
„Was ist denn hier los?", fragte er leise, ohne eine Antwort zu erwarten. Einen Moment dachte er daran, auszusteigen und das Personal nach
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