Stark gegen Stress
Prioritätensetzen ist zu einer der wichtigsten Aufgabe des Lebens geworden, denn die Vieloptionengesellschaft wird für manche durch ihren Überfluss zur Überforderung.
NADINES SOHN braucht ein Paar neue Winterhandschuhe. Er ist schon 17 und könnte seine Handschuhe selber kaufen, aber Nadine findet es besser, wenn sie sich darum kümmert. Sie vertraut ihrem Entscheidungsprozess mehr als dem ihres Sohnes. Sie weiss: Ihr Sohn würde einfach ins nächstbeste Geschäft gehen, sich die Auswahl ansehen und dann das Paar nehmen, das ihm am besten zusagt. Nadine macht das anders. Sie geht zwar auch zuerst ins nächstbeste Geschäft, aber mehr zum Zweck des Überblicks. Dort findet sie Handschuhe in Mengen, und ein Paar im oberen Preissegment gefällt ihr ganz gut. Doch sie möchte sicher sein, dass es nicht an einem anderen Ort Handschuhe gibt, die ein noch besseres Preis-Leistungs-Verhältnis aufweisen. Um zu vergleichen, fährt sie in zwei weitere Sportläden im Nachbardorf. Tatsächlich, in einem findet sie ein qualitativ ebenbürtiges Paar, das zehn Franken weniger kostet. Leider passt die Farbe der Streifen nicht zur Skijacke. Das ginge nun gar nicht, so gut kennt Nadine ihren Sohn. Nach eineinhalb Stunden fährt sie zurück ins erste Geschäft und kauft dort die Handschuhe, die sie als Erstes gesehen hat. Mit einem guten Gefühl, denn sie weiss: Diese sind die richtigen, und zum richtigen Preis.
Nadine investiert viel Zeit, um einen Entscheid von relativ geringer Tragweite zu treffen. Sie hat sich für diesen Weg entschieden, die richtige Wahl der Handschuhe war ihr den Aufwand wert. Ihr Sohn hätte es sich einfacher gemacht. Zwei Menschen, zweierlei Prioritäten, zweierlei Vorgehensweisen.
Nun steht bei einem Handschuhkauf nicht viel auf dem Spiel. Trotzdem ist Nadines Situation typisch für die unzähligen Entscheidungen, mit denen wir täglich konfrontiert sind. Die Welt ist komplex geworden, die Auswahl für fast alles ist riesig: Haushaltartikel, Nahrungsmittel, Kleidung, Haushalt- und Bürogeräte, Konsumgüter, Feriendestinationen, Freizeitangebote, Bildungsangebote, Smartphones – und kein Ende. Doch das sind verhältnismässig unwichtige Entscheide, auf die wirje nach persönlicher Vorliebe mehr oder weniger Zeit verwenden können. Misslingen sie, sind die Konsequenzen meist nicht von grosser Tragweite, der Stress ist gering, die Frustration in aller Regel überwindbar. Doch wie steht es mit den grossen Fragen des Lebens?
GLEICHSCHALTUNG IN FREIHEIT
Es steht nur scheinbar im Widerspruch zur Individualität, wenn unzählige Menschen die gleichen Gratiszeitungen lesen, die gleichen Smartphones besitzen, die gleichen Markenkleider tragen und die gleichen Fernsehsendungen schauen. Würde man diese Gleichschaltung im Konsumbereich erzwingen, käme es wohl zu einem Aufschrei der Empörung. Doch die Menschen entscheiden sich freiwillig dafür – das nährt die Illusion der Freiheit. Und vielleicht befriedigt es auch den Wunsch, trotz individueller Lebensgestaltung zu einer grösseren Gemeinschaft dazuzugehören. Man ist in seiner ganz eigenen Individualität wie das Kollektiv – aber eben selbstbestimmt. Und darauf kommt es an.
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Generation Option
Es ist noch nicht so lange her, dass das Lebensziel schlicht und einfach «Existenzsicherung» hiess. Ein Ziel, das die Richtung im grossen Ganzen vorgab und Entscheide, wo es denn Entscheidungsmöglichkeiten gab, erleichterte. Männer sorgten fürs Einkommen, Frauen machten den Haushalt, bekamen Kinder und betätigten sich karitativ. Ein «gelingendes Leben» hiess primär ein Leben in materieller Sicherheit.
Zu viel Freiheit. Gibt es das?
Zwar gibt es immer noch unendlich viele Länder, in denen die Not gross ist – sogar in der Schweiz gibt es mehr Armut, als viele wahrhaben wollen. Doch die erste Generation der Nachkriegsgeborenen, die heute 50- bis 70-Jährigen, genoss und geniesst hierzulande in der Mehrheit bereits ein Leben ohne existenzielle materielle Sorgen; für die folgenden Generationen gilt das erst recht. Ein wichtiges früheres Ziel und eine Orientierungshilfe fallen damit weg.
Dazu kommt: Die Gesellschaft ist heute dank der Liberalisierung von Werten und Normen in den 60er-Jahren unterschiedlichen Lebensentwürfengegenüber toleranter. Es ist mehr möglich geworden, es gibt kaum mehr gesellschaftliche Vorschriften. Doch der Druck ist deswegen nicht geringer. Früher musste man sich dem gesellschaftlichen und kirchlichen Diktat
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