Stark gegen Stress
individuellen Weg nicht mehr dient, einfach wieder wegwerfen kann.
Was es bedeutet, gegen die eigenen Werte zu handeln
In der modernen Wegwerfgesellschaft bezieht sich das Wegwerfen längst nicht mehr nur auf gebrauchte Waren und Abfall, sondern immer mehr auch auf Beziehungen. So stehen bei der Optimierung des eigenen Lebensentwurfs schon mal der Partner, die Partnerin im Weg, oder auch andere Personen, mit denen man verbunden war. Und im Arbeitsleben oder in der Politik wirkt sich Loyalität manchmal hemmend auf die persönliche Gestaltungsfreiheit und Karriere aus. Die Seilschaften notfalls zu wechseln, kann strategisch von Vorteil sein; Verbindlichkeiten stören da nur. Auch politisches Kalkül ist ein Feind von Beziehungen mit hoher Verbindlichkeit.
Häufig ist man deshalb vor die Wahl gestellt, ob man sich anderen gegenüber loyal verhalten oder die Beziehungen opfern und seinen eigenen Interessen den Vorzug geben soll. Solche Entscheidungen gehören zu den einschneidenden Ereignissen im Leben. Allerdings gibt man ihnen kaum je genug Raum, weil man sich ihrer Tragweite gar nicht bewusst ist.
TIM K. UND MATTHIAS B. sind beide seit Jahren in derselben Firma im Kader. Sie mochten sich von Beginn an, und so ergab es sich schnell, dass sie zweimal wöchentlich über Mittag Badminton spielen gingen und bei auswärtigen Sitzungen die Fahrt gemeinsam machten. Aus einer kollegialen geschäftlichen Beziehung entwickelte sich mit der Zeit eine Art Freundschaft. Ein- bis zweimal pro Jahr traf man sich mit der ganzen Familie, zum Grillen oder zum Wandern. Wenn es Probleme gab, tauschten sich die beiden aus, wurden so Wissensträger voneinander und schätzten den Rat des anderen.
Im Zuge einer Restrukturierung der Firma droht nun ein Stellenabbau; vor allem das Kader ist betroffen. Tim K. realisiert, dass der neue Vorgesetzte, der erst seit einem halben Jahr in der Geschäftsleitung sitzt, bei den anstehenden Entscheidungen eine wichtige Rolle spielen wird. Obgleich er weiss, dass Matthias B. mit dem neuen Chef seine Probleme hat, und obwohl beide schon mehrfach über ihn gelästert haben, sucht er engeren Kontakt zu ihm und bemüht sich, einen besonders guten Eindruck zu machen. Jüngst in einer Sitzung wirkte Matthias gestresst und nicht so sicher wie sonst. Tim weiss, dass sein Freund ein emotionaler Mensch ist und dass ihm die drohenden Veränderungen im Betrieb zusetzen. Sein Auftritt war denn auch von dieser Stimmung überschattet. Als der Chef Tim auf die Leistung von Matthias anspricht, nimmt Tim diesen nicht in Schutz, sondern findet auch, dass er besser vorbereitet und in seiner Präsentation souveräner hätte sein sollen. Damit verzichtet er bewusst oder unbewusst darauf, seinen Freund zu schützen, um sich selber bessere Karten zu sichern. Schliesslich ist er, Tim, Familienvater von drei Kindern; er kann es sich nicht leisten, keinen Lohn nach Hause zu bringen. Er kann nicht auch noch für Matthias schauen; wenn der solche Auftritte verbocke, findet Tim, dann sei das seine Sache.
Tim K. ist kein Einzelfall – viele würden so handeln wie er. Der Impuls, für sich selber zu schauen und die eigenen Stärken ins Spiel zu bringen, wenn negative Veränderungen drohen oder die Ressourcen knapp werden, ist ein Erbe der Evolution. Wer ihm unbesehen folgt, wird Altruismus oder Verbindlichkeiten in Beziehungen wenig oder gar keinen Platz einräumen. Was für Tim früher gut war – die Freundschaft mit Matthias –,erweist sich nun als problematisch. Schliesslich, so sagt sich Tim, ist er ein Konkurrent um den Job, da ist Rücksicht fehl am Platz.
Viele werden dieser Sicht zustimmen und dabei vordergründig keinerlei Skrupel verspüren. Sie haben keinen Stress oder wollen ihn nicht wahrhaben, doch innerlich nagt es gleichwohl an ihnen, dass anderen Schaden zugefügt wurde, den sie angerichtet oder zumindest nicht verhindert haben.
Andere werden gleich handeln wie Tim, sich dabei aber unwohl fühlen; wieder andere möchten gar nicht erst in diese Situation geraten. Und schliesslich würden vermutlich einige von sich behaupten, dass sie anders, nämlich ethisch korrekter reagieren würden. Allerdings: Hypothetisch sieht alles meist ein bisschen anders aus als in der Realität. Häufig weiss man erst in der Situation selber oder später, wie man wirklich reagiert hätte.
Wie hätten Sie sich verhalten? Tatsache ist: Einen Entscheid zu fällen, der mit den eigenen Werten und Normen kollidiert, kann zu massivem Stress
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