Stark gegen Stress
führen, weil man sich damit selber enttäuscht. Es ist ein Verrat an der eigenen Person – keine Situation aktiviert unsere Konstrukte stärker (siehe Kapitel 60) als diese, denn nun sind wir in einem Grad unzulänglich, den nicht nur andere bemerken, vor denen wir uns rechtfertigen müssen, sondern den wir selber schmerzhaft realisieren. Wir möchten gerecht und verlässlich sein, uns gut oder gar perfekt verhalten – ein Verstoss gegen diese Prinzipien schmerzt uns selbst im Innersten.
HINWEIS Dass Verlässlichkeit in wichtigen Lebensbereichen und sozialen Beziehungen nicht mehr zählt oder jedenfalls weniger als früher, ist ein Zeitphänomen. Es bewirkt Stress auf beiden Seiten: bei dem, der keine Verlässlichkeit anderer mehr erfährt, wie auch bei dem, der seine Verlässlichkeit verrät. Letzterer Fall hat mit dem Dachstock in Ihrem Stresshaus zu tun, genauer gesagt damit, welchen Stellenwert Verlässlichkeit in Ihrer Wertehierarchie hat.
Zum Überlegen: Verbindlichkeit und Loyalität
▪ Was bedeutet für Sie Verbindlichkeit gegenüber anderen?
▪ Wie gehen Sie damit um, wenn Sie andere bezüglich Ihrer Verbindlichkeit enttäuschen müssen?
▪ In welchem Bereich, in welchen Beziehungen und bei welchen Personen schätzen Sie Loyalität und Verbindlichkeit als wichtig ein?
▪ Was hilft Ihnen, sich auf Ihre Verbindlichkeit zu besinnen?
Eine Frage des Vertrauens
NACH DEM SPRACHSTUDIUM hat die 25-jährige Elisabeth J. sich einen Assistentinnenjob in einer kleinen, dynamischen Werbeagentur geangelt. Sie hat viel Spielraum, lernt interessante Leute kennen, knüpft eine Menge Kontakte und verdient ganz gut. Der Vorgesetzte und das Team sind angenehm, geben ihr wertschätzende Rückmeldungen zu ihrer Arbeit, die Entwicklungsmöglichkeiten sind hervorragend. Die Arbeit macht Elisabeth sichtlich Spass; sie bemüht sich sogar um eine Weiterbildung, die ihr auch bewilligt wird. Als sie nach knapp einem Jahr kündigt, ist ihr Chef völlig perplex und vor den Kopf gestossen.
Sie erklärt ihm, dass ihr eine bessere Stelle angeboten worden sei, zudem sei der neue Arbeitsweg kürzer.
JONAS T. ist seit über 20 Jahren bei seinem Arbeitgeber, einem internationalen Konzern, angestellt. Er wurde im Laufe der Zeit immer mal wieder befördert, heute ist er Mitglied der Direktion. Auf seinem Fachgebiet ist er ein anerkannter Experte, der gut wirtschaftet und dessen Urteil geschätzt und respektiert wird. Sein Leistungsausweis ist tadellos, das kommt auch in den Mitarbeitergesprächen regelmässig zum Ausdruck. Als Jonas T. eines Tages zu einer Sitzung mit dem Vorgesetzten seines Vorgesetzten eingeladen wird, denkt er an nichts Böses. Anwesend sind sein direkter Vorgesetzter, eine Personalverantwortliche und zwei Security-Leute. In diesem Rahmen wird dem völlig ahnungslosen Jonas die Auflösung des Arbeitsverhältnisses bekanntgegeben – wegen einer «Strukturbereinigung». Er wird per sofort freigestellt und erhält eine Stunde Zeit, um seinen Arbeitsplatz unter Aufsicht der Security-Leute zu räumen.
Beide Beispiele zeigen, wie brüchig Loyalitäten im Berufsleben bisweilen sind. Loyalität ist als Wert aus der Mode, und es ist ganz irrelevant, ob diese Entwicklung nun seitens der Arbeitgebenden oder der Arbeitnehmenden eingeleitet wurde.
Als Ersatzwerte stehen «Optimierung» und «Gewinnmaximierung» in Grossbuchstaben über beiden Beispielen. In Elisabeths Fall geht es um die Optimierung des persönlichen Lebensentwurfs, im Fall von Jonas letztlichum jene der Unternehmenszahlen und des Aktienkurses. Für die Betroffenen sind es in beiden Fällen unvorhersehbare Entscheidungen, die über sie hereinbrechen; ihr Vertrauen wird erschüttert. Bei Jonas werden nach 20 Jahren geschätzter Arbeit im selben Betrieb sogar Security-Leute aufgeboten – wie wenn er ein Verbrecher wäre, ein Mensch, dem man nicht trauen kann. Wie muss dies auf ihn wirken?
Das ist alles leicht zu beschreiben und zu lesen, wenn es andere betrifft, wenn man sich selber gemütlich zurücklehnen kann und das Ganze aus Distanz betrachtet. Doch lassen Sie sich auf ein Gedankenexperiment ein:
Zum Überlegen: Wie reagiere ich auf einen Vertrauensbruch?
▪ Wie würden Sie sich in Elisabeths Haut fühlen? Wie in der Haut der Vorgesetzten von Jonas?
Wechseln Sie die Perspektive und überlegen Sie sich, was mit Ihrem Wertezimmer passieren würde, wenn Sie sich vorstellen, wie Elisabeth Ihnen schnöde kündigt, oder wenn Sie in der Situation von
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