Starke Frau, was nun?
schließt sie die Augen und atmet einige Male kräftig ein und aus.
»Konzentration … Baby ...« Lisa verzieht das Gesicht, erschafft gleichzeitig in ihrem Kopf das Bild ihres Piepers und die Nummer, die sie bereits so einige Male auf dem Display sah. 103 … nein!
0171 ... ja, komm schon, komm schon …
Es gelingt tatsächlich. Nach einigen weiteren äußerst angespannten Überlegungsminuten befördert sie den benötigten Code aus einer ihrer Hirnwindungen zutage. Dennoch bebt der Finger, mit dem sie die Ziffern betätigt, schließlich hat sie das wirklich noch nie getan.
Dann klingelt es. Klingelt … klingelt weiter … und Lisa wird langsam ein bisschen ungeduldig. »Es ist mitten in der Nacht!«, knurrt sie in den Hörer. »Du bist zu Hause, ich weiß es! So lange feiert kein Mensch eine geplatzte Hochzeit!«
Stimmt! Nach Ewigkeiten meldet sich am anderen Ende eine schlaftrunkene Stimme. »Meyer.«
»Wird ja auch Zeit!«, grollt sie. »Ich brauche Chris´ Adresse!«
Eine Weile herrscht Stille. Dann … »Wer ist denn da?«
»Ich, natürlich!«
»Wenn das ein mieser Telefonstreich werden soll, dann kann ich Ihnen flüstern, dass ich das überhaupt nicht witzig finde. Was immer Sie wollen, versuchen Sie es zu einer christlichen Uhrzeit noch mal!«
BAMM!
Aufgelegt.
Lisa kann es nicht fassen! Ohne das geringste Zittern betätigt sie die Wahlwiederholung. Das werden sie doch mal sehen ... »ICH SAGTE ...«
»Hier ist Lisa!«, unterbricht sie ihren Chef, bevor ihr von seinem Gebrüll die Ohren abfallen können. »Und ich wäre dir äußerst verbunden, wenn du jetzt Chris´ Adresse in den Staaten herausrücken würdest.«
Ha!
Das bringt ihn auf jeden Fall erst mal zum Schweigen, und es dauert eine ganze Weile, bevor am anderen Ende ein Räuspern ertönt. »Ich verstehe ...« Selten hatte sie den alten Griesgram so höflich erlebt, »... dass du momentan nicht ganz auf der Höhe bist. Aber solltest du … NOCH EINMAL AUF DIE IDEE KOMMEN, MICH MITTEN IN DER NACHT AUS DEM BETT ZU WERFEN, DANN SUCHE UND FINDE ICH DICH, KAPIERT?«
Prompt verengen sich ihre Augen gefährlich. »Ist das eine Drohung?«
»Ja!« , blafft es am anderen Ende. »Du darfst gegen neun bei mir antanzen. Nein! Zehn! Dann reden wir!«
BAMM!
Aufgelegt!
Natürlich versucht sie es gleich noch einmal; so leicht wimmelt niemand Lisa Radtke ab – dummerweise hat dieser widerliche Mann das Handy ausgeschaltet.
Frechheit!
Vorteil: Die Dämmerung zieht langsam herauf. Nachteil: Es wird empfindlich kalt. Wegen ihrer nackten und blutigen Füße beäugen die Frühaufsteher die junge Frau recht argwöhnisch und sie zahlt es mit gleicher Münze heim, aktiviert hin und wieder auch den legendären Mittelfinger und schiebt dabei ihr Rad mit hängenden Schultern die Straßen entlang.
Wohin?
Noch immer ist sie diesbezüglich kein bisschen schlauer und begeht daher schließlich widerwillig den nächsten Tabubruch, indem sie den erstbesten McDonalds ansteuert – gibt in der Stadt ja genügend Filialen. Dort bestellt sie sich einen dieser chemischen Kaffees, setzt sich in die Außenanlage – hier hat sie wenigstens ihre Ruhe – und wartet missmutig auf den Sonnenaufgang.
Inzwischen ist ihr nämlich wirklich kalt.
Auf die aktuelle flüssige Chemie folgt eine weitere, dann noch eine, bevor sie zur Abwechslung auf Milchshake umschwenkt (einschließlich chemischer Zusätze). Wenigstens haben die hier Sojamilch - wenn auch unter Garantie mit Chemie versetzt und genverseucht.
Und – oh Wunder! Gegen acht beginnt dieser unzuverlässige Stern tatsächlich, so etwas wie Wärme abzugeben, was echt dringend wird – zu diesem Zeitpunkt schlottert Lisa bereits vor lauter Kälte.
Gegen halb neun versucht sie todesmutig, in ihre Schuhe zu schlüpfen, doch die scheinen in den vergangenen Stunden um eine Nummer geschrumpft zu sein. Oder aber, ihre Füße hatten einen unvorhergesehenen Wachstumsschub. Und so bleibt ihr nichts anderes übrig, als barfuß durch die mittlerweile durchaus belebten Straßen zu radeln.
Schließlich hat sie ja einen Termin bei Meyer …
* * *
Ihr Chef lebt nicht weit von dem Fast-Food-Tempel entfernt. Glücklicherweise, denn die dämlichen Blicke der Passanten gehen Lisa zunehmend auf den Geist.
Er wohnt in einem dieser alten Blocks, deren Treppenstufen riesig sind, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, residiert er natürlich direkt unter dem Dach. Mit ihren fast toten Füßen benötigt Lisa Ewigkeiten, um sich hinauf zu
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