Starke Frau, was nun?
nachgrübelt. Weitaus grauenhafter jedoch ist, dass es sie so unvorstellbar trifft. Kein einziges Mal denkt sie dabei an all die anderen. Nicht einmal annähernd kommt die Frage auf, was wohl die Mädchen sagen werden oder Robert … ihre Eltern, ihre ehemaligen Parteifreunde, die Leute aus der Umweltgruppe, nicht zuletzt die verdammten BILD-Leser.
All das spielt plötzlich so gar keine Rolle mehr.
Eine Stunde später, inzwischen ist tatsächlich tiefe Nacht angebrochen, geht ihr auf, dass er inzwischen tausend Kilometer entfernt ist und dass sie nichts hat: keine Adresse, keine Rufnummer, keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren.
Dieser speziellen Erkenntnis schließt sich sofort die zwangsläufig folgende an: Und selbst wenn, was denn dann? Soll sie ihn anrufen und ihm sagen …
Ja, was soll sie ihm denn sagen?
Stöhnend legt sie sich ins Gras. Ihr Rücken schmerzt; es war schließlich ein langer Tag – mit einer Hochzeit und einer vorangegangenen schlaflosen Nacht. Sicher, ungefähr fünf Millionen Hunde betrachten die Wiese als ihre Toilette, aber mehr gibt es wohl nicht an ihrem sauteuren Hochzeitsgewand zu versauen.
Nachdenklich schaut sie zum wolkenlosen, mit Sternen übersäten Himmel. Jetzt, spät in der Nacht, könnte man mit einiger Fantasie tatsächlich davon ausgehen, sie befände sich irgendwo in der Natur und nicht inmitten einer verseuchten Metropole.
Er wird sie mit Sicherheit fortschicken, ganz bestimmt nicht einmal mit ihr sprechen. Das kindische › No!‹ hat sie nämlich auch nicht vergessen. Für Lisa gibt es durchaus Grenzen und die sind – wenn es Männer angeht – sogar äußerst eng bemessen. Sie wird sich nicht in eine solche demütigende Situation bringen – NEIN!
Das ist kein Mann wert, auch nicht er.
»Na ja«, meint sie nach einiger Zeit trocken. »Dann bleibt also nur Option zwei … Vergiss ihn und mach deine verdammte Sendung am Nachmittag. Ist doch auch ganz nett.«
Ihre Lider senken sich über Pupillen, die plötzlich verdächtig glitzern. So ein Mist! Hätte ihr das denn nicht früher auffallen können? Alles wäre viel einfacher gewesen, doch nun ist er fort und sie … ganz allein!
Sie will ihn nämlich gar nicht vergessen oder ihn sich aus dem Kopf schlagen. Selbst das Machoargument funktioniert plötzlich nicht mehr. Dabei ist er sogar ein elender Macho! Nicht einmal ihr Trotz zieht noch – egal, wie kindisch der ist. Selten hat sie sich so verzweifelt gewünscht, bei ihm zu sein – oder überhaupt bei irgendeinem Menschen. Lisa kann es sich sogar eingestehen, denn es hört ja niemand. Aber der Gedanke, jetzt zurück in ihr altes Leben zu kehren, von dem doch ohnehin nichts mehr übrig ist, hat etwas unvorstellbar Vernichtendes. Mit einem Mal ist sie davon überzeugt, dass dies nicht möglich ist.
Klasse!
Und was soll sie stattdessen tun? Etwa nach einem Neuen suchen? Leben, meint sie, nicht etwa Macho ...
Es vergehen noch einmal etliche Minuten – können in der Summe auch eine Stunde gewesen sein –, bevor sie begriffen hat, dass der nächste Schritt wohl unausweichlich ist. Lisa wird etwas tun, von dem sie glaubte, dass es nie – nicht in einhundert Jahren – eintreffen würde. Als das auch endlich gesackt und abgenickt ist, erlaubt sie sich, wieder visuell an der Umgebung teilzunehmen. Das Glitzern ist dank des konkreten Plans erfolgreich bekämpft, und sie rappelt sich mit neuem Elan von ihrem Teil der Hundetoilette auf.
Den Versuch, ihr Kostüm zu säubern, unternimmt sie erst gar nicht. Möglicherweise passt ihr Äußeres zu dem Obdachlosenstatus, den sie ja neuerdings innehat. Und so schiebt sie Marlene zur Treppe, die sie aus der Natur zurück in die raue Wirklichkeit der Berliner Sommernacht bringt.
»Verdammt!«, stöhnt sie, als sie das alte Mädchen auf die Schultern hebt. »Du musst unbedingt abnehmen!«
Lange muss Lisa suchen, bevor sie auch findet, was sie benötigt. Im Zeitalter der Elektrosmog verbreitenden Handys gibt es nur noch sehr wenige Telefonzellen, Münztelefone schon mal gar nicht, aber darauf ist sie bestens vorbereitet.
Eilig extrahiert sie die Karte aus ihrer Geldbörse, schiebt sie in die vorgesehene Öffnung und nimmt mit leicht zittriger Hand den Hörer ab.
Nummer …
Jetzt will ihr die verdammte Nummer nicht einfallen – na ja, wie auch, sie hätte nie geglaubt, mal verzweifelt genug zu sein, das zu tun. Aber als ihre Gedanken die wildesten Kapriolen schlagen, nur nicht diese blöde Zahlenfolge ausspucken,
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