Starke Frau, was nun?
gleichzeitig leger und schick. »Wie viele Patienten hast du heute?«
Frau Radtke schlürft ihren Kaffee. »Vier.« Dann stellt sie die Tasse ab und mustert ihre Tochter prüfend. »Du siehst nicht gut aus. Was ist los?«
»Oh bitte!«, stöhnt das einzige Kind der Radtkes. »Keine Psychoanalyse vor dem Aufstehen!«
Mechthild hebt die Schultern. »Ich bin nur eine Mutter, die ihr Kind kennt. Also, was ist ...«
Hans legt eine Hand auf ihre Schulter. »Lass sie erst einmal wach werden, Liebling.«
Lächelnd gibt sie ihrem Mann nach, doch die kritische Miene bleibt. Lisa beeilt sich mit ihrem Pudding und flüchtet kurz darauf. Ihre Mutter ist Therapeutin und die machen offensichtlich nie Feierabend, was auf die Dauer ernsthaft belasten kann. Sie hätte sich ja auch schon längst eine eigene Wohnung gesucht, aber die Vorteile hierzubleiben, überragen nun einmal die negativen Komponenten haushoch.
1. Die Wohnung ihrer Eltern ist riesig. Mehr als zehn Zimmer, da läuft man sich nicht über den Weg, wenn man es nicht will.
2. Lisa muss keine Miete bezahlen.
3. Sie bekommt morgens immer ihren Kaffee; außerdem sind ihre Eltern verdammt locker und sie hat sie verdammt lieb.
Das kann man nun mal nicht von der Hand weisen, selbst, wenn die Mutter manchmal nervt.
Kurz darauf steht sie in ihrem großen Altbauzimmer und wählt die Kleidung für den heutigen Tag aus. Die Augen werden schmal, als ihr Blick flüchtig bei einem besonders weiten Oberteil verharrt, doch dann entscheidet sie sich wie sonst für ein hautenges. Darunter wie üblich ein Ministrickrock – wenn auch ein anderes Exemplar als gestern –, die obligatorischen schwarzen Wollstrumpfhosen, und die Sache ist geritzt.
Danach nutzt sie die Gelegenheit, sich nackt in dem großen Schrankspiegel zu betrachten: Ein schmaler Körper, etwas blasse Haut und dunkles, volles Haar, das sich wild um ihren Kopf bauscht. Na ja, und die Brüste passen eben zu ihrer eher knabenhaften Figur!
»Arschloch!«, knurrt Lisa. Von wegen! Die sind genau richtig! Sie kann wenigstens am Strand auf dem Bauch liegen, und Robert versichert ihr ständig, dass sie schön sind!
Dämlicher Amischwätzer!
Als Nächstes steigt sie unter die Dusche, und als sie sich die Haare wäscht, berührt sie versehentlich frontal die Beule an ihrer Schläfe. Der nichtamerikanische Affe hatte sie gestern selbstverständlich darauf angesprochen. Bei eingeschalteten Mikros, versteht sich. »Das habe ich mir bei den ewigen Faustkämpfen in der von brachialen Männern dominierten Welt geholt. Die konnten ihre Wild-West-Allüren nämlich immer noch nicht ablegen. Dauert wohl noch ein paar Jahrhunderte, bevor auch sie in der zivilisatorischen Neuzeit angekommen sind«, hatte sie gekontert.
Und was tat der Arsch? Er grinste.
Obwohl hier heißes Wasser uneingeschränkt zur Verfügung steht, duscht sie nur kurz, um die kostbare Ressource nicht zu verschwenden. Dann zieht sie sich an, kämmt ihr Haar und unternimmt schließlich einen weiteren Ausflug in die Küche, um sich einen Apfel zu nehmen. Auf dem Rückweg entdeckt sie ihren Vater, sitzend an seinem Laptop. Die Datei ist immer noch weiß. Kurz entschlossen geht sie zu ihm und legt einen Arm um seine Schulter. »Keine Rose?« Er seufzt nur; sie küsst seine Schläfe und schaut noch bei Mechthild vorbei, die gerade am Losgehen ist. Sehr weit hat sie es nicht, denn ihre Praxis befindet sich im Haus. Ein weiterer Kuss auf eine weitere Stirn und dann kann Lisa endlich verschwinden.
Heute ist kein Robert-Tag. Dienstag – das bedeutet, die wöchentliche Sitzung der Prenzlauer Berger Suffragetten steht an. Eine Partei von und für Frauen, die über stolze 3.000 Mitglieder verfügt – bundesweit – und bei der nächsten Wahl in den Bundestag einziehen wird. So viel steht bereits fest. Jedenfalls für die Mitglieder.
Es ist halb eins, um drei geht es los. Demnach bleiben ihr noch zweieinhalb Stunden. Ihre erste Station ist der Friseur, wo Klaus-Werner sie bereits erwartet. Er ist stockschwul und eine Seele von einer Fast-Frau. »Schätzchen!«, begrüßt er sie überschwänglich und deutet auf ihren Wangen jeweils ein Küsschen an. Dann hält er sie auf Armeslänge und verzieht das Gesicht. »Huch! Wie grausam!«
Damit ist ihr Haar gemeint. Na ja, das kennt Lisa schon.
Eine Stunde später ist sie nach Klaus-Werners Urteil wieder ein menschliches Wesen und nicht länger eine Vogelscheuche. Sie bezahlt die läppischen 70 Euro und macht sich auf ihrem Rad
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