Starke Frauen
ihresGeistes ein verschuldetes Land aus der Rückständigkeit befreien können. Am 3. September 1775 wird Carl August zum Herzog proklamiert – und Anna Amalia mit 35 Jahren in den Ruhestand geschickt. Sie zieht in das Wittumspalais an der Esplanade um. Die »Herzogin Mutter« versucht, sich mit einer »Tafelrunde« aus Freunden, in der die Gäste nach ihren Eigenschaften und nicht nach der Geburt beurteilt werden, zu beschäftigen. Hier entsteht ihr »Musenhof«. Sie lernt loszulassen, beginnt sich zu langweilen.
Und dann kommt Goethe.
Der 26-jährige Jurist ist seit dem Erfolg seines Romans Die Leiden des jungen Werthers (präsentiert 1774 auf der Leipziger Buchmesse) ein Popstar seiner Generation. Als er am frühen Morgen des 7. November 1775 am Töpfermarkt eintrifft (er kommt auf Einladung des 18-jährigen Carl August, der ihn während seiner Kavalierstour in Frankfurt am Main kennenlernte), hat er vor, höchstens 14 Tage in diesem »Nest« zu bleiben. Er bleibt 57 Jahre, bis zu seinem Tod. Und mit ihm zieht in Weimar »Sturm und Drang« ein. Mit Goethe konnte man sich nicht langweilen.
Er gibt den Hofpoeten, arrangiert Feste, Leseabende und Maskenbälle wie ein geborener Event-Manager. Wieland fällt auf, dass Goethe die Fürstin »respektlos« behandelt, »sich in deren Gegenwart oft auf dem Boden im Zimmer herumwälzt und durch Verdrehung der Hände und Füße ihr Lachen erregt« – sie ihn aber dennoch »äußerst liebenswürdig und witzig« findet.
Und der Shootingstar aus Frankfurt? Goethe verliebt sich. Aber nicht in seine Gebieterin, sondern angeblich in deren Hofdame Charlotte von Stein. Sie ist sieben Jahre älter, verheiratet, nach sieben Entbindungen zur Melancholie neigend, aber intelligent, taktvoll und höchst loyal. Fast 1700 Briefe soll er, dieser gesunde, temperamentvolle Bursche, Reiter, Fechter, Boxer, ihr geschrieben haben. Eine bizarre Vorstellung.
Also muss die Frage erlaubt sein: War Charlotte nur vorgeschoben wegen der notwendigen strengsten Geheimhaltung seiner wahren Geliebten? War es nicht doch die lebensfrohe Herzogin, die der junge Poet begehrte?
Noch am 29. Januar 1776 schreibt Goethe: »Es geht mir verflucht durch Kopf und Herz, ob ich bleibe oder gehe.« Am 14. Februar 1776 heißt es schon: »Mit der Herzogin Mutter habe ich sehr gute Zeiten, wir treiben auch wohl allerlei Schwänck und Schabernack.«
Anna Amalia, nicht Charlotte, sorgt dafür, dass ihr Sohn den Quereinsteiger zum Geheimen Legationsrat beruft, sie bewegt den Kaiser, ihn zu adeln. Sie schenkt ihm das repräsentative Haus am Frauenplan, besucht seine verwitwete Mutter in Frankfurt. Welche Frau würde all das für den Freund ihres Sohnes tun, geschweige denn für den Geliebten einer ihrer Angestellten? Weitere Indizien: Goethe diskutiert in seinen Briefen mit der Adressatin über italienische und lateinische Literatur, die er ihr im Original vorlesen möchte. Charlotte beherrscht keine Fremdsprache, Anna Amalia schon. Auf einem von Goethes Zetteln steht: »Der verfluchte Name Charlotte verfolgt mich überall.« Muss man das erklären?
Andererseits: Weimar war ein Nest. Unvorstellbar, dass im Laufe der Jahre kein Getuschel über ein so inniges Verhältnis an die Öffentlichkeit gedrungen wäre.
In seinem autobiografischen Buch Dichtung und Wahrheit schreibt Goethe, diese stürmische Zeit ließe sich allein »im Gewand der Fabel oder eines Märchens darstellen; als wirkliche Tatsache würde die Welt es nimmermehr glauben«.
Am 3. September 1786 flieht Goethe nach Italien, heimlich und ohne sich zu verabschieden. Könnte es sein, dass die »Affäre« zwischen ihm und Anna Amalia zu platzen drohte?
Der Weimarer Geheimrat bleibt 563 Tage weg. Nach der Heimkehr behandelt ihn die Dame seines Herzens betont reserviert. Er beschließt, sich in sein Häuschen im grünen Park an der Ilm zurückzuziehen und sich »elend« zu fühlen. Knapp einen Monat später trifft er die 23-jährige Kunstblumenbinderin Christiane Vulpius. Sie wird seine Geliebte, zieht bei ihm ein, das erste ihrer fünf Kinder kommt »zeitgerecht« auf die Welt.
Goethes Mesalliance schockiert die Stadt – und die Frau, die er bislang liebte. Wie muss sie Christiane beneidet haben! Um den Mann, der endlich die häusliche Behaglichkeit und das erotische Glück (dieVulpius nennt seinen Penis »Herr Schönfuß« und den Sex »Schlampampen«) fand. Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: Hier die spröde Göttin seines Geistes, dort ein geistloses
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