Starke Frauen
möglich denken.« Das frühreife Einzelkind kommt auf ein Mädchengymnasium, liest – im Schatten von Immanuel Kants Denkmal – die Kritik der reinen Vernunft und entwickelt Allüren. Da der Unterricht »zu früh« beginnt, lässt sie sich von den Frühstunden befreien. Den Religionslehrer reizt sie mit dem Bekenntnis, sie würde an keinen Gott glauben. Und die Nachbarn schockiert sie, weil ihre Affäre mit einem Philosophiestudenten alles außer platonisch ist. Mit 15 wird sie der Schule verwiesen, doch die Mama sorgt dafür, dass sie ihr Abitur als Externe ablegen darf. Sie schreibt geradezu prophetische Gedichte: »Was ich geliebt / kann ich nicht fassen / Was mich umgibt / kann ich nicht lassen.« Und sie will Philosophie studieren, »das Studium entschlossener Hungerleider«, vermutlich um den Lover nicht zu verlieren.
Auch als Erstsemesterin in Marburg fällt Hannah auf – nicht nur weil sie in ihrer Dachkammer eine Maus dressiert und sie auf die Besucher loslässt. Ihr Professor Martin Heidegger findet sie entzückend. Von Februar 1925 an sind der Philosoph und die 19-jährige Studentin ein Paar. Da er weder seinen Ruf noch seine Ehe riskieren möchte, erfinden die beiden ein ausgeklügeltes Versteckspiel mit Geheimzeichen. Geöffnetes Fenster: Komm! Angeschaltete Lampe: Morgen bei dir.
Heidegger schreibt bereits an seinem Schlüsselwerk Sein und Zeit und betont später, »ohne sie, ihren Geist« hätte er es nicht schreiben können. Und Hannah – sie ist ihm bis zur Hörigkeit ergeben. 1926versucht sie, sich loszureißen, wechselt nach Heidelberg. Aber Herr Professor ruft, bestellt sie zu einem Rendezvous in die Schweiz – und sie folgt.
Sie promoviert bei Karl Jaspers. Thema: Der Liebesbegriff bei Augustin . Dem Kirchenlehrer wird die Aussage zugeschrieben: »Amo. Volo ut sis.« (»Liebe heißt: Ich will, dass du bist.«) Für Hannah ist Liebe die wichtigste aller antidemagogischen Kräfte, weil sie sich jenseits der Gesetze entfaltet und die bestehenden Doktrinen ignoriert.
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»Menschen, die nicht denken, sind wie Schlafwandler«
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In Heideggers Thesenreich findet Liebe übrigens nicht statt. Mit 22 wird Fräulein Arendt Doktorin der Philosophie und weiß nicht so recht, was nun: »Ich hätte mein Recht zu leben verloren, wenn ich meine Liebe zu dir verlieren würde. Der Weg, den du mir zeigtest, ist länger und schwerer, als ich dachte. Er verlangt ein ganzes langes Leben.« Heidegger macht Schluss mit ihr.
Jetzt gönnt sie sich etliche Affären, heiratet 1929 den jüdischen Sozialphilosophen Günther Stern und zieht mit ihm nach Berlin. Man sieht sie beinahe nie ohne eine Zigarette in der einen, einen Marx-Band in der anderen Hand: Stern hat sie mit seinem Antikapitalismus infiziert. Dennoch weigert sie sich nach Hitlers Machtübernahme, mit ihm ins Exil zu gehen. Aber sie verwandelt ihre Wohnung zu einem Zufluchtsort für Kommunisten und beginnt, Beweismaterial für den programmatischen Antisemitismus der Nazis zu sammeln. Sie wird verhaftet, flieht nach Paris, wo sie Transporte jüdischer Kinder nach Palästina organisiert. Heidegger wird NSDAP-Mitglied und von den Nazis zum Rektor der Freiburger Universität berufen. Seinem Lehrer Edmund Husserl verbietet er das Betreten des Uni-Geländes, weil er ein Jude ist. 1935 besucht sie selbst das Land, das 1948 zum überlebenswichtigen Rückzugsort der Israelis wird. Sie ist beeindruckt, dennoch nüchtern, was den Kibbuz-Mythos betrifft: »Ich wusste schon damals, dass man dort nicht leben konnte.«
1937 lässt sich Hanna Arendt von Stern scheiden. 1940 lernt sie den bettelarmen Kommunisten Heinrich Blücher kennen und heiratet ihn.Im April 1941 ist das Paar, mit 50 Dollar in der Tasche, an Bord eines Schiffes unterwegs nach New York. Sie bleiben auch nach Kriegsende. Hannah schickt ihrem Mentor Karl Jaspers Care-Pakete und engagiert sich in der Jewish Cultural Reconstruction. Sie beginnt, sich in der Neuen Welt einzuleben, bleibt aber geistig in Europa, fragt sich, wie es zu der braunen Barbarei kommen konnte, und schreibt an einem Buch, das ihr Weltruhm (und viele Feinde) beschert: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft . Hauptthese: Imperialismus und Rassismus gehören zusammen, kollektive Schuld gibt es nicht. Nicht alle Nazis waren Sadisten, eher feige Mitläufer, für die private Sicherheit das Höchste war. Siehe Heidegger. Dem hat die französische Militärregierung mittlerweile die Lehrerlaubnis entzogen.
Im November 1949
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