Starke Frauen
Kinder zu analysieren. Bald fahren die »Girls« durch den Wienerwald, machen Urlaub in Italien, Dorothy trägt Dirndl (wie Anna).
Anna veröffentlicht 1927 die Einführung in die Technik der Kinderanalyse und gründet die Hitzinger Schule für Kinder, die in einer normalen Schule nicht klarkommen. 1930 kaufen die beiden Frauen (Anna strickt kaum noch!) ein Bauernhaus bei Wien. Bei Vater Freud läuten die Alarmglocken; er denkt nicht daran, die Kontrolle über Anna aufzugeben, und lädt Dorothy 1928 ein, in seinem Haus zu wohnen. Bietet an, sie zu analysieren. Dorothy lehnt ab. Er schenkt ihr eine Opalbrosche, sie verliert sie.
Anna hat jetzt einen geliebten Lebensgefährten auf Augenhöhe gefunden. Aber eine Frau, die als Sexpartner eine Frau wählt, verzichtet darauf, eigene Kinder zu bekommen. Also organisiert sich Anna eine »Ersatzfamilie« – einen Patchwork-Lebenskreis mit Männern, aber ohne Ehemann. Sigmund Freud nimmt sie immer mehr in Anspruch (»Annas Bedeutung für mich ist kaum mehr zu steigern«). Anna protestiert nicht, sie ist das Opferbringen gewohnt.
In Berlin kommt Hitler an die Macht, für die Nazis ist Psychoanalyse »jüdische Pornografie«, Freuds Bücher werden wegen »seelenzerstörerischer Überschätzung des Sexuallebens« verbrannt. Am 11. März 1938 marschieren die Nazis in Österreich ein, um es »heim ins Reich«zu holen. Freuds Wohnung wird von der Gestapo durchsucht. Und da man jemanden mitnehmen muss, bietet sich Anna anstelle ihres Vaters an.
Am 22. März wird sie in das SS-Quartier gebracht. Sie nimmt ein starkes Betäubungsmittel mit für den Fall, dass man sie foltern sollte. Erst jetzt lässt sich Freud durch seine Freunde von den Besatzern freikaufen. Am Pfingstsamstag verlassen Vater und Tochter Anna Wien und treffen am 6. Juni 1938 in London ein. Martha und Minna kommen nach, Freuds vier Schwestern kommen im KZ ums Leben. In seiner Kürzesten Chronik seiner zehn letzten Jahre erscheint der Name seiner Frau 14-, seiner Tochter 50-mal.
Sigmund Freud ist als Analytiker begehrter denn je. Aber: Er hat inzwischen 31 Operationen hinter sich, kann kaum noch essen, sogar das Sprechen ist mit Schmerzen verbunden. Am 1. August 1939 schließt er seine Praxis. Noch in Wien hat er seinem Hausarzt Max Schur das Versprechen abgenommen, ihm eine Überdosis zu spritzen, sollten die Schmerzen unerträglich werden: »Lieber Schur, besprechen Sie es mit der Anna, und wenn sie es für richtig hält, machen Sie ein Ende.« Wie teuflisch! Sie soll für ihn über Tod und Leben entscheiden.
Fünf Tage nach Vaters Beerdigung empfängt Anna wieder Patienten. Außerdem übernimmt sie die Hauptverantwortung für Freuds Nachlass, organisiert Kongresse, wird die Herausgeberin seiner Gesammelten Werke , aber konzentriert sich auch auf ihr Fachgebiet: Kinderpsychologie. Zusammen mit Dorothy gründet sie eine experimentelle Kindergruppe für arme und Waisenkinder. 1942 erscheinen ihre Schriften über Kriegskinder und Anstaltskinder .
1951 gründet Anna in London ihre »Hampstead Clinic«. Hier wird sie ihre wissenschaftlichen Ambitionen verwirklichen, hier werden bedürftige, Einwanderer- und Problemkinder betreut. Sie ist die Erste, die das Kind als eigenständiges Wesen sieht, das als Erwachsener weitergeben wird, was es in der Kindheit erlebte.
Behandelt sie ein dickes Mädchen, erklärt sie seinen Eltern: »Sie denkt mit dem Bauch.« »Es ist sehr schwer, mit einem kleinen Engel zu wetteifern«, heißt es, wenn ein Kind nach dem Tod seines jüngeren Geschwisters hysterisch wird. Fragt sie einer ihrer kleinen Patienten:»Wo wohnst du?«, antwortet sie: »Weißt du, wo Jofi wohnt? Da wohne ich auch.« Jofi ist ihr Hund, ein Chow-Chow.
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»Auch Psychologen haben Gefühle«
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Als Dorothy 1979 stirbt, trauert sie, eingehüllt in Dorothys handgestrickte Jacke. Nach einem Schlaganfall 1982 kann Anna weder sprechen noch stricken, aber ihren Kampfgeist und Humor bewahrt sie. Wenn man sie bittet, den Namen des nächsten Verwandten anzugeben, schreibt sie »Jofi«. Und fährt man sie im Rollstuhl herum, hüllt sie sich, klein wie ein Schulmädchen, in den großen, warmen Lodenmantel ihres Vaters (der heute im Londoner Freud-Museum zu finden ist). »Miss Freud« wird die große Dame, die »Stammmutter« der Psychoanalyse. Aber sie ist nicht nur Übersetzerin von Vaters Wissenschaft, sondern auch die Pionierin, welche die Schwachstellen seiner Theorien erkennt und korrigiert. Psychoanalyse ist kein
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