Starke Frauen
Allheilmittel, aber sie kann dem Menschen helfen, mit seinen Begierden und Illusionen einen Waffenstillstand zu schließen.
Das ständige Zittern ihres Kopfes und ihrer Hände lässt Anna verzweifeln. Am 7. Oktober 1982 stöhnt sie: »Ich kann es nicht länger ertragen.« Ein Neurologe verschreibt ein Opiat, am 9. Oktober stirbt Anna. Wie sie es sich wünschte, spielt man bei ihrer Beerdigung Gustav Mahlers »Das Lied von der Erde«. Wie bei Dorothys Begräbnis.
In Alfred Bioleks Kochsendung alfredissimo! verzichtet sie auf aufwendiges Edelstahlgerät (»Das muss man dann doch alles abspülen!«), bereitet einen »Frankfurter Kranz« mit der Gabel und mit Margarine statt Butter zu, so wie es ihr ihre Großmutter beigebracht hat, so wie es ihre eigenen drei Kinder von ihr lernten. In Götz Alsmanns Talkshow Zimmer frei verkündet sie mit einem fast trotzigen Stolz: »Man versteht mich auch im Altenheim.«
Zwei Szenen, welche die geradlinige »Ossi-Lady« charakterisieren: Sie steht zu ihrer Herkunft und gibt vielen eine Stimme, die sonst kaum gehört wurden. Strategie und Taktik? »Ist nicht mein Ding.« Sie kämpft fröhlich gegen soziale Kälte, ohne an Eigennutz oder Gewinn zu denken, und erobert die Herzen der Menschen im Sturm. Nicht nur im Osten.
Während eines Wahlkampfs heißt es auf den Plakaten in Dinslaken und Herne »Hildebrandt kommt«. Das genügt. Der Andrang ist enorm, sie macht sich lustig über Politiker-Worthülsen wie »Handlungsbedarf« oder »Umbau des Sozialstaats«. In der Landes-SPD geht schließlich der Spruch um: »Biete zwei Scharping gegen eine Hildebrandt.« Und bundesweit hat Regine mehr Termine als die beiden anderen Ost-Sozialdemokraten, Manfred Stolpe und Wolfgang Thierse, zusammen.
Politik? – »Verdirbt den Charakter, hat meine Mutter gesagt. Ich gebe mir Mühe, dass das nicht der Fall ist.«
Die Mutter ist eine bodenständige Hausfrau, die einen kleinen Tabakladen betreibt, ihr Vater Kaffeehauspianist. Als Kriegskind erlebt Regine Bombenhagel, Hunger und Kälte. Die vierköpfige Familie teilt sich mit einer Untermieterin zweieinhalb Zimmer. Sie wächst in der Bernauer Straße 2 auf. Der Bürgersteig vor dem Haus liegt im Westen, im »französischen Sektor«, während Haus und Wohnung zum »Osten« gehören.
Im Nachbarhaus wohnt Helmut Hildebrandt, Pastor der Versöhnungskirche in der Bernauer Straße. Sein Sohn Jörg ist zwei Jahre älter als Regine. »Wir waren Freunde, lange bevor jemand an Ehe und Familie dachte«, sagt er, »sie war als Kind schon so wie als Frau. Spontan und lebenshungrig. Sie hat sehr früh motivierend und hinreißend geredetund daran hat sich nie etwas geändert.« Die Nähe zur Kirche (seit 1961 ist sie Chorsängerin der Berliner Domkantorei) wird der Unangepassten in der DDR immer wieder Schwierigkeiten bereiten.
Da sie kein Mitglied der FDJ ist, wird ihr trotz Einser-Abitur das Studium verwehrt, bis sich ein Professor der Humboldt-Universität für die Hochbegabte einsetzt. Regine wählt Biologie, eine ideologisch unbedenkliche Wissenschaft. Nach der Promotion 1964 wird sie Vize-Abteilungschefin beim VEB Berlin-Chemie, seit 1976 arbeitet sie in der Ostberliner Zentralstelle für Diabetes- und Stoffwechselkrankheiten.
13. August 1961. Der Mauerbau: »Wenn ich aus dem Fenster geschaut habe, war ich mit dem Kopf im Westen und mit dem Hintern im Osten.« Die Bernauer Straße grenzt an den Todesstreifen, der Bruder mit seiner Frau seilen sich in den Westen ab, sie bleibt: »Dass ich nicht abgehauen bin, hatte wahrscheinlich auch mit protestantischer Tradition zu tun: Wo du hingestellt bist, da setzt du dich ein.« Sie hört die Schüsse, die Fliehende töten.
1966 heiraten Jörg und Regine. Und auch die Erziehung der drei Kinder wird zu einer gefährlichen Gratwanderung, wenn man sich nicht selbst belügen will. Bei den Hildebrandts gibt es keine Begradigung von Ansichten, um unauffällig zu bleiben. Nicht nur in der Kirche, auch daheim singt man Luthers Lied »Ein feste Burg ist unser Gott«. Ab 1968 wird die Familie von der Stasi beobachtet. »Innerhalb der Familie besteht ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl«, wird Hildebrandt später in ihrer Akte lesen. Was für ein Kompliment, welches Eingeständnis der geistigen Ohnmacht!
Aus nächster Nähe kann sie dabei zusehen, wie das Regime an seiner eigenen Arroganz scheitert. 1985 lässt es die Versöhnungskirche sprengen, Hildebrandt hält die Barbarei mit der Fotokamera fest; und die Trümmer
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