Starke Frauen
bei Berlin. Ihr Mann hält ihre Hand.
Regine Hildebrandt war eine ideale Gesamtdeutsche: eine bekennendeDDR-Frau, da werktätige Mutter, und anerkannte Bundesbürgerin, da »Frau Ministerin«. Sie lobte den Westen und stellte ihn ständig infrage, sie verurteilte die DDR, ohne sie zu verdammen: »Mir waren immer die gleichen Sachen wichtig ... die Mitmenschlichkeit.«
Ihre Lebenskoordinaten:
Die Säulen des Lebens? »Beruf, Familie, Freunde, Domkantorei.«
Geld? »Schafft kein Glück.«
Gott? »Gott will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.«
Maxime: »Jeder muss das Maß der Dinge unbedingt in sich selbst tragen.«
Motto: »Leben, solange man leben kann, und es so gut wie möglich machen. Ich mache das, was mir aufgetragen ist, immer bis zum Schluss.«
Tod? »Kinder, das gehört zum Leben. Jammern nützt da nichts.«
Traum: »Eine Gemeinschaft, bei der man füreinander Verantwortung übernimmt und sich auch um die anderen kümmert.«
Sie lebte ihren Traum. Bequem war sie dabei nicht. Deshalb fehlt sie.
Zur Blütezeit der Kreuzfahrer, auf dem Höhepunkt des Investiturstreits zwischen Kaiser und Papst um das Recht, Bischöfe, Äbte und Geistliche zu benennen, wird Herrn Hildebert von Bermersheim und seiner Gattin Mechtild auf deren Herrensitz in der Nähe von Alzey ein Mädchen geboren. Da es ihr zehntes Kind ist, beschließen sie, es der Kirche zu schenken. Wie ein »Zehntel« von allem, was sie haben. Seit dem 6. Jahrhundert bereits ist das »Zehntel« die wichtigste Einnahmequelle des Vatikans.
Hildegard ist ein schüchternes, isoliertes Kind. Denn: Sie hat Visionen. Als erwachsene Frau schreibt sie: »In meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, dass meine Seele erbebte, doch wegen meiner Kindheit konnte ich mich nicht darüber äußern.« Sobald sie also erfährt, dass die Eltern für sie das Los einer Nonne bestimmten, fügt sie sich – widerstandslos.
An Allerheiligen 1112 kommt die 14-Jährige in die Frauenklause neben dem Benediktinerkloster auf den Disibodenberg an der Nahe. Die Tür hinter ihr wird zugemauert. Es folgen 35 Jahre der Stille.
Aber sie genießt die Freiheiten, die ein Leben in einer männerfreien Welt bietet, lernt Schreiben, Lesen, Latein, spielt Harfe und memoriert Psalmen. Die Bibel bleibt ihr literarischer Proviant. Und die gebildete, überaus geachtete Jutta von Sponheim wird ihre Vertraute und ihr Vorbild. Mit einer Ausnahme: Als die Oberin 44-jährig stirbt und Hildegard ihre Leiche wäscht, entdeckt sie eine eiserne Kette, die Jutta »drei Furchen rings um ihren Leib eingedrückt« hatte. Später warnt sie vor maßloser Askese – das Gemüt vereise im »Winter des Überdrusses«. Die Schwestern wählen Hildegard zu Juttas Nachfolgerin.
Erst jetzt bekennt sich die neue Magistra zu ihren Visionen: »Als ich 42 Jahre und 7 Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzeleuchten vom offenen Himmel hernieder«, und eine himmlische Stimme ruft ihr zu: »Sage und schreibe, was du siehst und hörst!« ( Liber Scivias Domini , »Wisse die Wege des Herrn«). »Ich weigerte mich zu schreiben. Nicht aus Hartnäckigkeit, sondern aus dem Empfinden meiner Unfähigkeit.« Und aus Angst vor dem »Achselzucken und dem mannigfachen Gerede der Menschen«.
Natürlich weiß sie, dass ihr Coming-out lebensgefährlich ist. DasGebot »Das Weib schweige in der Gemeinde«, das Apostel Paulus verhängte, wird konsequenter umgesetzt als die meisten Bibelgesetze. Andererseits: Hildegard erhält ihre Eingebungen von höchster Stelle, sie muss – als braves Weib! – gehorchen. Mit Gott diskutiert man nicht. Schon gar nicht, wenn die Lichtgestalt einen während einer Vision wissen lässt: »O wie schön sind deine Augen, wenn du göttliche Dinge kundtust!«
Um sich zu schützen ( Jeanne d’Arc wird später als Hexe verbrannt, weil sie ihren Visionen folgt), betont sie unermüdlich, wer ihr Auftraggeber ist. Und wer dessen Wort »verbirgt, es wütend verkürzt, der sei verworfen«, steht in Scivias . Und so fühlt sie sich autorisiert, ihre Meinung zum Sittenverfall der Kirche, zur Steuerpolitik des Kaisers, zur Ernährung, zur Verhütung, kurz: zu allem zu bekunden.
1147 geschieht ein Wunder. Papst Eugen III., dem die Disibodenberger Benediktiner von ihrer Nonne erzählen, ermuntert die Deutsche, alles zu veröffentlichen, was sie vom Heiligen Geist erfährt, und lässt ihr ausrichten: »Die Scharen gläubiger Völker, sie brechen aus in
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