Starke Frauen
Erfahrung ihr Einfühlungsvermögen in Bezug auf Kinder schöpfen: Fühlt sich ein Kind verloren, geht es verloren.
Jetzt aber versucht sie wie alle normalen Kinder, aufzufallen, merkt, dass ihre »Unartigkeit« Papa amüsiert, vor allem wenn sein »schwarzer Teufel köstlich frech« ist.
Wie ihre Schwestern darf Anna auch nicht aufs Gymnasium, sondern muss ein Lyzeum besuchen, um auf den Beruf einer Grundschullehrerin vorbereitet zu werden. Sie glänzt. Daraufhin nimmt der Vater die 14-Jährige mit zu den Sitzungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Und gibt ihr seine Bücher zum Lesen. Nach Schulende versinkt Anna in exaltierte Träumereien – und in die Muster ihrer Strickerei. Freud deutet diese Tätigkeit als Sex-Ersatz: Stricknadeln sind Penisse, wer strickt, spielt damit, um seinen Penisneid zu verdecken. Aber der »Familienstrickzirkel« unter der Leitung von Minna strickt weiterhin wie wild, Anna inklusive. Die jedoch wird nach seinem Tod seine Interpretation infrage stellen. Und zeitlebens stricken.
Anna wird Lehrerin, gleichzeitig lässt sich ihr Vater von ihr zu Kongressen begleiten, überträgt ihr die Führung seiner Korrespondenz und behauptet: »Sie verlangt nicht, als Frau behandelt zu werden, ist noch weit entfernt von sexuellem Verlangen und lehnt Männer eher ab!« Ach, wie heuchlerisch!
1918 nimmt Professor Freud seine Tochter in Analyse, eine Stundetäglich, sechs Tage die Woche, drei Jahre. Womit er selbst bei seinen treuesten Anhängern Unbehagen stiftet: Weiß er nicht, dass Patienten während der Behandlung ihre verdrängten Gefühle auf den Analysten übertragen? Allen voran sexuelle Sehnsüchte?
Anna erzählt ihrem Vater alles, sie schreibt ihm sogar ihr »Nachtleben« auf: »Neulich habe ich geträumt, dass du ein König bist und ich eine Prinzessin und dass man uns durch politische Intrigen auseinanderbringen will.« Sie möchte ihn beschützen, aber ihr Säbel (für Papa ein Hinweis auf Annas Penisneid) bricht.
1919 veröffentlicht er ein Schriftstück mit dem Titel »Ein Kind wird geschlagen«, in dem er Annas Geständnisse verwertet. Sie muss über sich lesen: »Der Wunsch, vom Vater ein Kind zu bekommen, ist beim Mädchen konstant.« Die Kritik seiner »Jünger« wird immer lauter: Freud »vergewaltigt« seine Tochter, macht aus ihr ein »heiliges Ungeheuer«, eine »unerbittliche Hüterin der Reinheit seiner Lehre«.
1922 wird Anna Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Freuds Reaktion: »Ich bedauere sie sehr, dass sie noch im Hause bei den Alten sitzt, aber andererseits, wenn sie wirklich fortginge, würde ich mich so verarmt fühlen wie zum Beispiel jetzt, wie wenn ich das Rauchen aufgeben müsste.« Er raucht bis zu 20 Zigarren (!) täglich, obwohl er darin einen Ersatz für Masturbation erkennt.
Anna hat mittlerweile begriffen, dass der einzige Weg zur Selbstständigkeit darin liegt, etwas Eigenes zu erschaffen. 1923 eröffnet sie eine Praxis für Kinderanalyse. Sie ist sicher: Kein Kind kommt »kaputt« auf die Welt, Problemkinder werden von ihrer Umgebung »gemacht«. Und: Der Sextrieb ist nicht der einzige Schuldige an ihren Problemen. Damit weicht sie entschieden von der Lehre ihres Vaters ab.
In den Wochen ihrer »Befreiungsversuche« wird bei Freud Rachenkrebs diagnostiziert. Nach der Operation weigert sich Freud, eine andere Pflegerin als Anna um sich zu haben. Sie schließen einen Pakt: Kein Gefühl wird zur Schau getragen. Mitleid, Anteilnahme? Tabu. Durchschaut Anna sein »Spiel« nicht? Jedenfalls pflegt sie ihn nicht nur, sie vertritt ihn auch. 1925 muss sie beim Kongress in Bad Homburg seinen Text vorlesen, in dem er die moralische Minderwertigkeit des Weibes zu beweisen hofft.
»Natürlich werde ich immer mehr auf Annas Pflege angewiesen sein. Jedenfalls war es sehr weise, sie gemacht zu haben«, resümiert Vater Freud. Und er nimmt die Berufsanalytikerin 1924 erneut für neun Monate (!) in Analyse: »Sie arbeitet wirklich gut, aber wie alle Frauen immer fanatisch und macht sich zu sehr müde«, schreibt er 1925. Klingt wie ein Nachruf.
----
»Kein Kind kommt kaputt auf die Welt«
----
Im selben Jahr taucht ein Mensch auf, der Anna wichtiger wird als der Papa: Dorothy Burlingham, jüngste Tochter des Glasmillionärs Louis Tiffany. Eine Amerikanerin, die an die »Heilkraft« der Psychoanalyse glaubt. Nachdem sich ihr Ehemann als Homosexueller outet, verlässt sie ihn und kommt nach Wien. Anna erklärt sich 1925 bereit, Dorothys
Weitere Kostenlose Bücher