Starkes Gift
gut aus wie Sir Impey Biggs. Stimmt es eigentlich, daß er Kanarienvögel züchtet?«
»Wer, der Staatsanwalt?«
»Nein, Sir Impey.«
»Doch, das stimmt. Er hat sogar schon Preise gewonnen.«
»So was Verrücktes!«
»Trag’s mit Fassung, Freddy«, sagte Lord Peter Wimsey.
»Ich spüre Bewegung. Sie kommen, die Meinen, die Süßen, leicht wie der Wind, auf sanften Füßen.«
Das Gericht erhob sich. Der Richter nahm seinen Platz ein. Die Angeklagte, sehr blaß im elektrischen Licht, erschien wieder in der Anklagebank. Die Tür zum Geschworenenzimmer öffnete sich.
»Du mußt dir ihre Gesichter ansehen«, sagte die Verlobte.
»Es heißt, wenn sie einen schuldig sprechen, sehen sie den Angeklagten nie an. Bitte, Archie, halt meine Hand!«
Der Gerichtssekretär wandte sich an die Geschworenen. In seiner Stimme kämpften Förmlichkeit und Vorwurf miteinander.
»Meine Damen und Herren Geschworenen, sind Sie einmütig zu einem Urteil gekommen?«
Der Obmann erhob sich mit gekränkter, verärgerter Miene.
»Ich bedaure, sagen zu müssen, daß es uns nicht möglich war, Einmütigkeit zu erzielen.«
Ein langes Raunen und Atemholen ging durch den Gerichtssaal. Der Richter beugte sich vor, die Höflichkeit selbst und ohne eine Spur von Müdigkeit.
»Glauben Sie, daß Sie sich noch einigen können, wenn wir Ihnen mehr Zeit lassen?«
»Ich fürchte nein, Mylord.« Der Obmann warf einen wütenden Blick in die äußerste Ecke der Geschworenenbank, wo die alte Jungfer mit gesenktem Kopf und fest verschlungenen Händen saß. »Ich sehe keine Möglichkeit, daß wir uns jemals einig werden.«
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
»Nein, Mylord, vielen Dank. Wir verstehen die Beweislage durchaus, aber wir können zu keiner einheitlichen Auslegung kommen.«
»Das ist bedauerlich. Ich meine, Sie sollten es vielleicht doch noch einmal versuchen, und wenn Sie dann noch immer keine Entscheidung getroffen haben, sagen Sie es mir.
Sollten Ihnen in der Zwischenzeit meine Gesetzeskenntnisse von Nutzen sein, stehe ich Ihnen selbstverständlich zur Verfügung.«
Die Geschworenen stolperten verdrießlich hinaus. Der Richter verließ mit nachschleppender roter Robe die Richterbank. Das Gemurmel im Gerichtssaal wurde lauter und schwoll zum Grollen an.
»Himmel noch mal, Wimsey«, sagte Freddy Arbuthnot, »ich glaube, das ist deine Miss Climpson, die da so den Betrieb aufhält. Hast du gesehen, wie der Obmann sie angefunkelt hat?«
»Eine gute Seele«, sagte Wimsey. »Großartig, einfach hervorragend! Die Frau hat ein furchterregend zähes Gewissen – vielleicht hält sie sogar durch.«
»Ich glaube, du hast die Geschworenen bestochen, Wimsey. Hast du ihr heimlich Zeichen gemacht?«
»Nichts dergleichen«, antwortete Wimsey. »Ob du’s glaubst oder nicht, ich hab ihr nicht einmal zugezwinkert.«
»Und er selber hat’s gesagt«, deklamierte Freddy. »Wollen wir’s dir mal glauben. Aber es ist schon hart für Leute, die noch nicht zu Abend gegessen haben.«
Sechs Stunden. Sechseinhalb Stunden.
»Endlich!«
Als die Geschworenen zum zweitenmal einmarschierten, zeigten sie deutliche Verschleißerscheinungen. Die gehetzte Hausfrau hatte geweint und schluchzte noch immer in ihr Taschentuch. Der Mann mit der Erkältung schien dem Tode nahe zu sein. Des Künstlers Haare waren zerwühlt und struppig wie ein ungemähter Rasen. Der Firmendirektor und der Obmann sahen aus, als hätten sie die größte Lust, jemanden zu erwürgen, und die alte Jungfer hielt die Augen fest geschlossen und bewegte die Lippen wie im Gebet.
»Meine Damen und Herren Geschworenen, sind Sie einmütig zu einem Urteil gekommen?«
»Nein; und wir sind überzeugt, daß wir niemals Einmütigkeit erzielen werden.«
»Sind Sie dessen ganz sicher?« fragte der Richter. »Ich möchte Sie in keiner Weise drängen und bin meinerseits bereit, so lange zu warten, wie Sie es für nötig halten.«
Das Schnauben des Firmendirektors war noch auf der Galerie zu hören. Der Obmann beherrschte sich und antwortete mit einer vor Wut und Erschöpfung krächzenden Stimme:
»Wir werden uns nie einigen, Mylord – und wenn wir bis zum Jüngsten Tag zusammensitzen.«
»Das ist sehr bedauerlich«, sagte der Richter, »aber in diesem Falle bleibt natürlich nichts anderes übrig, als Sie zu entlassen und einen neuen Prozeß anzusetzen. Ich bin überzeugt, daß Sie alle Ihr Bestes gegeben und diesem Fall, dem Sie mit so großer Geduld und hingebungsvoller
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