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Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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Fenstern lauter Chorgesang erscholl, begleitet von einem Harmonium und anderen Instrumenten.
    »O Gott!« sagte Wimsey. »Wir platzen ausgerechnet in eine Versammlung. Da kann man nichts machen. Hier lang.«
    Sie warteten, bis die letzten Töne auf die Worte »Gloria, Gloria, Gloria«, gefolgt von inbrünstigem Gebet, verklungen waren, dann hämmerte er laut an die Tür. Bald erschien ein kleines Mädchen und stieß, als sie Wimsey sah, einen hellen Entzückensschrei aus.
    »Tag, Esmeralda Hyacinth!« sagte Wimsey. »Ist dein Vater da?«
    »Ja, Sir, bitte, Sir, da freuen die sich aber, kommen Sie rein, ja, und bitte –«
    »Ja?«
    »Bitte, Sir, singen Sie wieder ›Nazareth‹?«
    »Nein, ich singe heute um keinen Preis ›Nazareth‹, Esmeralda; ich muß mich aber sehr über dich wundern.«
    »Daddy hat gesagt, ›Nazareth‹ ist nicht weltlich, und Sie singen es so schön«, schmollte Esmeralda.
    Wimsey hielt die Hände vors Gesicht.
    »Das kommt davon, wenn man einmal eine Dummheit macht«, sagte er. »Das verfolgt einen dann ewig. Ich verspreche dir nichts, Esmeralda, aber wir werden sehen. Wenn die Versammlung vorbei ist, möchte ich erst mal mit Deinem Vater etwas Geschäftliches besprechen.«
    Das Kind nickte; im selben Moment verstummte die betende Stimme drinnen inmitten von lauter Halleluja-Rufen, und Esmeralda nutzte die kurze Pause, stieß die Tür auf und sagte:
    »Da ist Mr. Peter und eine Dame.«
    Das Zimmer war sehr klein, sehr heiß und voller Menschen. In einer Ecke stand das Harmonium, um das sich die Musiker gruppierten. In der Mitte stand neben einem mit einem roten Tuch bedeckten Tisch ein kräftiger, vierschrötiger Mann mit einem Gesicht wie eine Bulldogge. Er hielt ein Buch in der Hand und schien gerade wieder ein Lied ansagen zu wollen, doch als er Wimsey und Miss Murchison sah, trat er vor und streckte ihnen herzlich eine große Hand entgegen.
    »Willkommen der eine, willkommen alle!« sagte er. »Brüder, das ist unser lieber Bruder und unsere liebe Schwester im Herrn, die gekommen sind aus den Pfühlen der Reichen und dem süßen Leben des Westends, um mit uns die Lieder Zions zu singen. Lasset uns singen und lobpreisen, halleluja! Wir wissen, daß viele kommen werden aus Osten und Westen, um Platz zu nehmen an der Festtafel des Herrn, während viele, die sich auserwählt dünken, hinausgeworfen werden in die Finsternis. Darum laßt uns nicht sagen, daß dieser Mann, weil er ein glänzendes Augenglas trägt, kein auserwähltes Gefäß sei, und daß jene Frau, weil sie ein Diamantkollier trägt und einen Rolls Royce fährt, deshalb nicht im neuen Jerusalem ein weißes Gewand und eine goldene Krone tragen wird, oder daß Leute, nur weil sie mit dem Blauen Expreß an die Riviera fahren, darum ihre goldenen Kronen nicht am Ufer des Wassers des Lebens von sich werfen sollen. Wir hören solche Reden manchmal sonntags im Hyde Park, aber die Reden sind schlecht und dumm und führen zu Zank und Neid und nicht zu Nächstenliebe. Wir alle haben uns verirrt wie Schafe – ich darf das wohl sagen, wo ich doch selbst ein schwarzes Schaf und ein böser Sünder war, bis dieser Herr hier wahrhaftig seine Hände auf mich legte, als ich gerade seinen Safe knacken wollte, und als ein Werkzeug Gottes mich abbrachte von der breiten Straße, die in den Untergang führt. O Brüder, welch ein glücklicher Tag das für mich war, halleluja! Welch unermeßlicher Segen fiel auf mich durch die Gnade des Herrn! Lasset uns nun dem Himmel Dank sagen für seine Barmherzigkeit, und einstimmen in das Lied Nummer einhundertundzwei. (Esmeralda, gib unseren lieben Freunden ein Gesangbuch.)«
    »Tut mir leid«, sagte Wimsey zu Miss Murchison. »Können Sie’s noch ertragen? Ich denke, das ist der letzte Ausbruch.«
    Harmonium, Harfe, Zugposaune, Hackbrett, Sackpfeife und alle die andern Musikinstrumente legten mit einem Getöse los, daß einem fast die Trommelfelle platzten, die Versammlung hob vereint die Stimmen, und Miss Murchison bemerkte verwundert, daß auch sie sang – verlegen zuerst, dann fast mit Inbrunst:
     
    » Strömen durch das Tor,
Strömen durch das Tor des neuen Jerusalem,
Gereinigt im Blut des Lammes. «
     
    Wimsey, der das alles für einen großen Spaß zu halten schien, schmetterte ohne die mindeste Verlegenheit fröhlich vor sich hin; ob er nun an solche Übungen gewöhnt war oder ob er sich, wie es bei Leuten mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein oft der Fall ist, nur nicht vorstellen konnte,

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