Starkes Gift
knacken, was ist es dann schon für ein Unterschied, ob er es kunstvoll oder nicht kunstvoll macht?«
»Ist das nicht wieder typisch Frau? – Entschuldigung, Miss.«
»Du weißt jedenfalls genau, daß es stimmt«, sagte Mrs. Rumm.
»Und ich weiß, daß dieses Eisbein sehr kunstvoll aussieht«, meinte Wimsey, »und das genügt mir.«
Nachdem das Eisbein gegessen und zum großen Ergötzen der Familie Rumm »Nazareth« pflichtschuldigst gesungen war, klang der Abend mit einem frommen Lied harmonisch aus, und Miss Murchison hatte sich noch immer nicht wieder ganz gefaßt, als sie mit einem Satz Dietriche in der Tasche und einigen erstaunlichen neuen Kenntnissen im Kopf die Whitechapel Road hinaufging.
»Sie haben aber ulkige Bekannte, Lord Peter.«
»Ja – lustig, nicht? Aber Blindekuh-Bill ist einer von den besten. Ich habe ihn eines Nachts in meinem Haus erwischt und eine Art Pakt mit ihm geschlossen. Unterricht bei ihm genommen und so. Zuerst war er etwas schüchtern, aber dann hat ihn ein anderer Freund von mir bekehrt – das ist eine lange Geschichte – na ja, um es kurz zu machen, er hat sich dann diese Schlosserei zugelegt und macht sich ganz gut. Fühlen Sie sich jetzt allen Schlössern gewachsen?«
»Ich glaube, ja. Wonach soll ich eigentlich suchen, wenn ich die Kassette auf habe?«
»Also, die Sache ist die«, sagte Wimsey. »Mr. Urquhart hat mir den angeblichen Entwurf eines vor acht Jahren von Mrs. Wrayburn gemachten Testaments gezeigt. Ich habe Ihnen den wesentlichen Inhalt hier aufgeschrieben. Da ist der Zettel. Der Haken daran ist nun aber, daß der Entwurf auf einer Maschine getippt worden ist, die, wie Sie mir sagen, erst vor drei Jahren fabrikneu gekauft wurde.«
»Sie meinen also, daß er diesen Entwurf getippt hat, als er neulich abends noch im Büro war?«
»Sieht so aus. Die Frage ist, warum? Wenn er den Originalentwurf hatte, warum hat er mir den nicht gezeigt? Eigentlich hätte er mir überhaupt nichts zu zeigen brauchen, höchstens um mich irrezuführen. Dann hat er so getan, als suchte er den Entwurf in Mrs. Wrayburns Dokumentenkassette, obwohl er ihn angeblich zu Hause hatte und sogar wußte, daß er ihn dort hatte. Wieder stellt sich die Frage, warum? Damit ich glauben sollte, der Entwurf habe längst existiert, als ich ihn aufsuchte? Daraus schließe ich, daß im richtigen Testament, falls es eins gibt, nicht dasselbe steht wie in dem, das er mir gezeigt hat.«
»Ja, so sieht es aus.«
»Ich möchte also, daß Sie nach dem echten Testament suchen – entweder das Original oder eine Kopie müßte da sein. Nehmen Sie es nicht heraus, sondern versuchen Sie, sich das Wichtigste, was drinsteht, zu merken, besonders die Namen des oder der Hauptbegünstigten und des Nachvermächtnisnehmers. Bedenken Sie, daß der Nachvermächtnisnehmer alles bekommt, was nicht ausdrücklich jemand anderem zugedacht ist, auch das, was jemandem zugedacht war, der dann aber vor der Erblasserin gestorben ist. Ich will vor allem wissen, ob Philip Boyes etwas zugedacht wurde oder ob die Familie Boyes überhaupt in dem Testament erwähnt ist. Sollte kein Testament da sein, so finden sich vielleicht ein paar andere interessante Dokumente, etwa eine geheime Anweisung an den Testamentsvollstrecker, über das Geld auf eine ganz bestimmte Weise zu verfügen. Mit einem Wort, ich wüßte gern Einzelheiten über jedes Dokument, das irgendwie interessant sein könnte. Vertun Sie keine Zeit mit Notizen. Merken Sie sich, soviel Sie können, und schreiben Sie’s dann später außerhalb des Büros auf. Und achten Sie ja darauf, daß Sie diese Dietriche nirgends herumliegen lassen, wo sie einer finden kann.«
Miss Murchison versprach, diesen Anordnungen Folge zu leisten, und da soeben ein Taxi kam, setzte Wimsey sie hinein und ließ sie auf dem schnellsten Wege nach Hause bringen.
14. Kapitel
Mr. Norman Urquhart sah auf die Uhr, deren Zeiger auf Viertel nach vier standen, und rief durch die offene Tür:
»Sind diese eidesstattlichen Erklärungen bald fertig, Miss Murchison?«
»Ich bin gerade bei der letzten Seite, Mr. Urquhart.«
»Bringen Sie sie mir, sobald sie fertig sind. Sie müssen heute abend noch zu Hansons.«
»Ja, Mr. Urquhart.«
Miss Murchison galoppierte lärmend über die Tasten und warf den Zeilenschalter so heftig herum, daß Mr. Pond wieder einmal Grund hatte, den Vormarsch weiblicher Angestellter zu bedauern. Sie schrieb die Seite zu Ende, versah sie unten mit einer rasselnden Reihe
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